Die Bulgaren laufen sich tot
VERLUSTREICHER VORSTOSS: Bulgarische Truppen kämpfen sich durch Stacheldraht und über Schützengräben in die Nähe einer türkischen Stellung. Bulgarien spielt militä- risch eine Schlüsselrolle Abb.: NPL - DeA Picture Library/Bridgeman Images Von allen beteiligten Armeen gilt die bul- garische als die beste. Mit 350.000 Mann ist sie die stärkste der Balkanstaaten. Die Artil- lerie gilt als effizient und die Infanterie ver- traut nach französischem Vorbild auf An- griffe mit dem Bajonett, die vor allem in der Dämmerung vorgetragen werden. Am 21./22. Oktober und am 2. November errin- gen die Bulgaren bei Kirk-Kilisse und Lüle- burgaz zwei klare Siege gegen die Osmanen. Das Feuer ihrer Artillerie demoralisiert die türkische Infanterie und die bulgarischen Truppen gehen nach einstudiertem Muster mit dem Bajonett gegen feindliche Stellun- gen vor – teilweise sogar in Nachtangriffen, schließt eine weitere Allianz mit Griechen- land und Montenegro, das seinerseits ein Bündnis mit Serbien eingeht. Griechenland wiederum trifft mündliche Vereinbarungen mit Montenegro und Serbien. Inzwischen haben die militärischen Rückschläge gegen Italien die jungtürkische Regierung zu Fall gebracht. Bulgarien fordert nun von Kon- stantinopel die Anerkennung des autono- men Status von Makedonien, in der Hoff- nung, dieses werde sich einem großbulgari- schen Reich anschließen. Der Krieg beginnt am 8. Oktober 1912 mit einem montenegri- nischen Angriff auf osmanische Grenzstel- lungen. Bis kurz vor Konstantinopel Die Armeen der Balkanstaaten sind alle in etwa gleich organisiert. Ihre Feldartillerie verfügt zumeist über französische Geschüt- ze und die Infanterie über österreichische Gewehre. Die Osmanen vertrauen dagegen auf deutsche Krupp-Kanonen und Mauser- gewehre.
„Goltz Pascha“ Reformator der türkischen Armee
Wilhelm Leopold Colmar Freiherr von der Goltz (1843–1916) ist ein preußischer Generalstabs- offizier und Veteran der Einigungskriege. Er ver- fasst mehrere militärtheoretische und -histori- sche Abhandlungen. Als die Türkei nach ihrer Nie- derlage gegen Russland 1877/78 um deutsche Militärexperten bittet, reist Goltz nach Konstanti- nopel und leitet eine umfassende Reorganisation der osmanischen Truppen ein. Goltz lässt türki- sche Offiziere zur Ausbildung nach Deutschland schicken und deutsche Artillerie und Gewehre im- portieren. Während des Ersten Weltkriegs kom- mandiert er die osmanischen Truppen in Meso- potamien und stirbt am 19. April 1916 in Bagdad an einer Typhusinfektion.
EIN PREUSSE AM BOSPORUS Goltz' Wirken fördert eine pro-deutsche Gesinnung bei den türkischen Offizieren
Die Osmanen erhalten dagegen effektive Feuerunterstützung durch das Linienschiff Barbaros Hayreddin , die ehemalige deutsche Kurfürst Friedrich Wilhelm und die alte Pan- zerfregatte Mesudiye , deren Feuer durch Ar- tilleriebeobachter an Land geleitet wird. Auch die gefürchteten bulgarischen Bajo- nettangriffe bringen diesmal keinen Erfolg, da die Attacken nicht gut koordiniert sind. Fatale Fehlschlüsse Der bulgarische Thrakien-Feldzug veran- schaulicht aus Sicht vieler westlicher Jour- nalisten und Militärbeobachter die Möglich- keiten moderner Kriegführung. Kirk-Kilisse und Lüleburgaz scheinen zu bestätigen, dass eine mobile Operationsführung nach wie vor möglich ist, dass Kavallerie weiterhin wich- tig für die Verfolgung eines Gegners ist – was in beiden Fällen ausgeblieben war – und
bei denen sie Suchscheinwerfer einsetzen. Allerdings verpassen es die Bulgaren in bei- den Fällen, die sich ungeordnet zurückzie- henden Türken durch ihre Kavallerie verfol- gen zu lassen. So können die Osmanen 20 Kilometer vor der Hauptstadt Konstantino- pel bei Çatalca eine letzte Verteidigungsstel- lung aufbauen, die die bisher geschickt ge- gen die Flanken ihrer Gegner operierenden Bulgaren nicht mehr umgehen können. Stillstand im Stellungskrieg Obwohl die Bulgaren unter logistischen Pro- blemen leiden, ihre Truppen noch nicht voll- ständig vor den türkischen Stellungen auf- marschiert sind und eine Typhusepidemie in ihren Reihen ausbricht, entschließen sie sich dazu, die tief gestaffelte türkische Linie anzugreifen. Dieses Mal erweist sich das Feuer ihrer Artillerie jedoch als ungenügend.
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Clausewitz 4/2022
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