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Wie Kinder im Kindergarten von Neuer Autorität profitieren können

Ein Fachbeitrag von Herwig Thelen

begleitete „In-den-Hof-oder-Park-Gehen“ von Früher ist Geschichte. „Kind unter anderen Kindern“ zu sein, stellt letztlich das zentrale Lernfeld der Persönlichkeit und des sozialen Interessensausgleichs dar. Hier kann ich meine Wahrnehmung über mich selbst in der Be- gegnung mit anderen überprüfen und erweitern. Bin ich gerne dabei, darf ich mitspielen, werde ich gemocht, kann ich etwas so gut oder sogar besser als andere? Die Interaktion des Kindes mit anderen Kindern und mit Pä- dagog:innen unterscheidet sich dabei oft deutlich von dessen Interaktion mit den Eltern und lässt so wichtige Rückschlüsse auf die Fundamente der Persönlichkeit zu. Hier einige Beispiele: Mia ist höflich zu Erwachsenen, aber sie nennt ihre Pä- dagog:innen „gemeine Scheißkerle“, wenn diese sie dar- auf aufmerksam machen, dass sie beim Spiel schummelt. Hans ist seit zwei Jahren windelfrei. Er liebt seine Eltern, aber er uriniert zielbewusst auf den Wohnzimmertep- pich, wenn die sagen, dass er seinen kleinen Bruder nicht hauen darf. Im Kindergarten geht er gut und ge- lassen mit Grenzsetzungen um. Leonie hat kaum Freund:innen im Kindergarten, aber wenn Papa oder Mama sie abholen wollen, tut sie so, als ob die Luft wären und versinkt in ein eben erst be- gonnenes Spiel mit einem beliebigen Kind. Neue Autorität wirkt indirekt. Sie stärkt die Kinder, indem sie zuerst die emotionale Zuverlässigkeit der Erwachsenen verbessert.

Im vorliegenden Beitrag geht Herwig Thelen der Frage nach, wie das Konzept der Neuen Autorität nach Haim Omer dazu beitragen kann, Kindern sichere und zugleich spannende Spiel- und Lernräume zu bieten. Er regt an, auch und gerade in herausfordernden Erziehungssitu- ationen in Beziehung mit dem Kind zu bleiben, nichts persönlich zu nehmen und statt Strafen auf Wiedergut- machung zu setzen. Was Kinder in einer Betreuungseinrichtung brauchen, ist aus psychologischer Sicht einfach erklärt: einen sicheren und anregenden Ort, an dem sie Kinder unter Kindern sein können. Die Sicherheit ergibt sich aus der Groß- zügigkeit und Kinderfreundlichkeit der Räumlichkeiten ebenso wie aus teilritualisierten Abläufen im Tages- und Jahresrhythmus. Vor allem ist wichtig, dass das päda- gogische Personal emotional zuverlässig ist und die Fä- higkeit besitzt, die Vorzüge und Risiken des kindlichen Forschungsdrangs gut einzuschätzen. Die Anregung entsteht aus Spielmaterial und, viel wichtiger noch, aus Spielideen, die gemeinsames Tun erfordern. Im Idealfall weichen auch die von Erwachsenen gegebenen Anlei- tungen eigenen kindlichen Initiativen, die kaum bis gar kein vorgefertigtes Spielzeug mehr benötigen. Die An- sichten über das Kindsein unterliegen oft gesellschaftli- chen Strömungen. Den vergangenen Zeiten der Ausbeu- tung oder des Desinteresses am Kind folgten Phasen des uneingeschränkten Tun-Lassens oder der gegenwärtig nicht seltenen Idealisierung der Kindheit, mit dem Kind als ikonenhaft stilisiertes Fotomotiv oder als lebendi- ges Projekt perfekter Elternschaft. Kindsein heute be- deutet im Allgemeinen, eher im Zentrum des familiären Geschehens zu sein, also nahe an den Eltern und ihren intakten oder labilen Paarbeziehungen mit den jeweili- gen organisatorischen Anforderungen. Außerhalb von Kernfamilie, Vereinen und Betreuungseinrichtungen sind Vorschulkinder größtenteils von unverbindlichen Kontakten mit Gleichaltrigen abgeschnitten. Das un-

Herwig Thelen Klinischer- und Gesundheitspsycho- loge, Trainer für Neue Autorität nach Haim Omer und Family lab nach Jasper Juul, Coach, Supervisor und Mitautor des Buches „Neue Autorität. Das Handbuch“

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