NATIONAL GEOGRAPHIC HISTORY

GOETHES LIEBE WERTHERS tragische Geschichte greift Elemente der Verliebtheit des jungen Goethe in Charlotte Buff auf. Der Dichter lernte die da- mals 18-Jährige am 9. Juni 1772 auf einem Ball bei Wetzlar kennen. Seit dem Tod ihrer Mutter im Jahr zuvor hatte sie sich um ihren Vater und ihre neun jüngeren Geschwister ge- kümmert. Charlotte war mit dem Gesandtschaftsrat Johann Christian Kestner verlobt und sollte ihn im Jahr darauf heiraten. Mit ihrer ruhigen und besonnenen Art gelang es ihr, die Leidenschaft ihres neuen Vereh- rers zu zügeln, bis er sich schließlich zurückzog. Ein elementarer Unter- schied zwischen dem Dichter und seinem Werk: Goethe kam über seine Enttäuschung hinweg und dachte nicht an Selbstmord.

Geburtshaus von Charlotte Buff im hessischen Wetzlar.

bittet ihn, sie nicht mehr zu besuchen. Nach einem letzten Gespräch, bei dem beide ihre Gefühle kaum im Zaum halten können, trifft Werther die fatale Entscheidung. Unter dem Vorwand, er wolle einen Ausflug machen, schreibt er Albert, er solle ihm zwei Pistolen schicken. Mit einer davon schießt er sich in den Kopf. Am nächsten Morgen wird er sterbend aufgefunden; bei ihm liegt ein Abschieds- brief an die Geliebte. Da er weiß, dass die Kirche Selbstmördern ein Grab verweigert, bittet er darum, in der Nähe des Friedhofs unter zwei Linden und in seinem Anzug begraben zu werden. Goethes Roman war ein überwältigender Er- folg. Er erschien im September 1774 – bereits 1775 musste sein Verleger Weygand das Werk dreimal nachdrucken. Übersetzungen folgten: ins Fran- zösische (1775), Englische (1779), dann ins Nie- derländische, Schwedische, Serbische, Russische und Spanische. Das Buch löste eine regelrechte Modewelle aus; junge Männer kleideten sich in die „Werthertracht“, Kleidung, die der glich, die Jerusalem bei seinem Tod getragen hatte: blaue Jacke, gelbe Weste und hohe Stiefel. Man parfü- mierte sich mit „Eau de Werther“, Schmuck und Nippes trugen die Bildnisse Werthers und Lottes.

Der große Erfolg von Goethes Roman führte zu drei Nachdrucken innerhalb eines Jahres. Die bizarrste Folge des Romanerfolgs war jedoch eine Reihe von Selbstmorden in den Jah- ren nach der Veröffentlichung des Romans in Deutschland und anderen europäischen Ländern. Offenbar waren sie durch Goethes unglücklichen Helden inspiriert. Selbstmorde aus unglücklicher Liebe hatten natürlich auch zuvor schon Aufsehen erregt – so berichteten im Jahr 1770 die Zeitungen über den Selbstmord zweier Liebender in der Nähe von Lyon: Ein unheilbar kranker Büchsenmacher- meister nahm sich, aneinandergekettet mit seiner Geliebten, in einer Kapelle das Leben. Mehrfach wurde über den Fall berichtet – nicht etwa kritisch, sondern unter Betonung der Leidenschaft des Liebespaars. Im selben Jahr wurde ein weiterer Selbstmörder zum romantischen Idol: Der eng- lische Dichter Thomas Chatterton konnte sein von bitterer Armut geprägtes Leben nicht mehr

GOETHE Gipsbüste von Christian Daniel Rauch (1820, Kunstsammlung Dresden).

WERTHER 27

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