NATIONAL GEOGRAPHIC HISTORY

Georg Christoph Lichtenberg erwähnt einen weite- ren Fall in einem Brief, der vier Monate später, am 1. Mai des Jahres, datiert ist: „Es ist sicher, dass sich ein junger Herr von Lütichow wegen des Buches erschossen hat.“ In einem Brief vom 21. März 1777 berichtet Lucie Auguste Jensen von einem anderen Fall in Kiel: „Letzten Sonntag hat sich ein junger Mann na- mens Karstens erschossen. Er muss schwedischer Herkunft gewesen sein; sie fanden ihn in seinem Zimmer tot auf. […] Er lud seine Pistole mit vier Kugeln, um nicht daneben zu schießen, und hin- terließ einige Briefe, in denen er erklärte, wie sehr seine Geschichte der des jungen Werther glich, denn er muss in eine verheiratete Frau verliebt gewesen sein, und um genau wie er zu sein, wollte er ihn sogar im Tod und in jeder Kleinigkeit nach- ahmen; zum Beispiel bat er darum, von oben bis unten bekleidet und unter zwei grünen Bäumen begraben zu werden.“ Der Selbstmord der jungen Christel von Laß- berg am 16. Januar 1778 in Goethes Wohnort Wei- mar ist in vielen Quellen dokumentiert. Carl Au- gust Bötiger merkt an, dass „sie sich mit Werthers Leiden in der Tasche ertränkte, weil ihr Gelieb- ter, ein Livländer, sie sitzengelassen hatte“. Ein

anderer Zeitgenosse, Friedrich Wilhelm Riemer, ergänzt weitere Details: „Ein Fräulein von Laßberg wurde in der Ilm, unterhalb des Damms bei der Schlossbrücke, gefunden. Sie war in der Nacht zuvor ertrunken, ob zufällig oder aus freien Stü- cken, ist nicht bekannt, obwohl es heißt, dass sie Werthers Leiden in ihrer Tasche trug, um Goethe, wenn auch indirekt, die Schuld zu geben.“ Goethe ging dieser Fall besonders nahe; er schrieb darüber in seinen Tagebüchern und wollte sogar eine Ge- denkstätte für die junge Selbstmörderin errichten. Ein „gefährliches Buch“? Hauptmann Gottlieb Georg Ernst von Arenswald hatte sein gesamtes Vermögen verloren, mögli- cherweise durch Betrug und Glücksspiel. Außer- dem war er ein eifriger Leser „gefährlicher Bücher“ – neben dem „Werther“ auch weiterer dramatischer Romane, in denen sich die Protagonisten selbst das Leben nehmen. Mit dem Selbstmord vertraut, „entschloss er sich am 29. September 1781 dazu, verabschiedete sich in mehreren Briefen von seinen Freunden, ging noch am selben Tag mit mehreren Leuten spazieren, beendete am Abend seine Briefe, versiegelte sie und nahm gleich darauf die Pistole und nahm sich das Leben“.

DER FÄCHER zeigt Szenen aus den „Leiden des jungen Werther“. Er zählt zu den zahlreichen Devo­ tionalien, die im Zuge des Werther-Kults verkauft wurden (1776, Privatsammlung).

WERTHER 29

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