WEB_SAM focus 1_23_Freiheit

WENN VERZICHT ZUM Alltag WIRD

fang fand ich das schwierig und einen- gend. Doch mit der Zeit fand ich mich immer besser zurecht. Ich wurde zum Beispiel auch geübter darin, die tradi- tionelle Kopfbedeckung zu binden. Da man den Stoff für seine Kleidung sel- ber kauft und sich die Kleidung zusam- menstellt, kann man trotzdem seinen eigenen Stil finden. Am besten bringt man ein Modell/Muster zur Schneiderin oder zum Schneider, dann passt alles zu-

sammen. Mit der Zeit fand ich Freude daran, massgeschneiderte Kleidung zu tragen und auch Neues auszuprobie- ren. Die Einheimischen schätzen es sehr, wenn man die Kleidertradition ein we- nig zelebriert. Dadurch wird sichtbar, dass man sich ihrer Kultur anpasst, was sie schätzen und durch Komplimente ausdrücken. Freiwillige Regeln Ein angenehmer Verzicht war das Fehlen von vielen Regeln. Oft gelten im Strassenverkehr Guineas weniger oder andere Regeln als in der Heimat. Beispielsweise kann man den Löchern im Asphalt ausweichen, wie man will. Aber beim Kreuzen mit einem ande- ren Fahrzeug muss man auf der re- chten Strassenseite sein. Die Pflicht, einen Sicherheitsgurt anzulegen, betrif- ft nur den/die Fahrzeuglenker/in und den/die Beifahrer/in. Kindersitze haben Guineer/innen sozusagen nie, von einer Pflicht, sie zu nutzen, reden wir schon gar nicht. So nahmen wir uns die Frei- heit zu entscheiden, ob wir uns aus Si- cherheitsgründen an geltende Regeln der Schweiz hielten, oder die eine oder andere Freiheit nutzten.

Das Wort «Verzicht» ist etwas ne- gativ konnotiert und es schwingt vielleicht der Schmerz oder die Einschränkung mit, wenn wir auf etwas Gewohntes verzichten müssen. Während unseres fast 9-jährigen Einsatzes in Guinea haben wir auf sehr vieles ver- zichtet. Beim Nachdenken darü- ber habe ich festgestellt, dass sich durch den Verzicht viele neue Möglichkeiten eröffnet haben und eine neue Freiheit entstanden ist. Als transkulturelle Mitarbeitende verzichtet man auf viele Absicherun- gen, Versicherungen und Sicherheit im Allgemeinen. Oft muss man seinen eige- nen Weg finden, beispielsweise in medi- zinischen Fragen. Das war für uns ein grosser Verzicht. Wir haben jedoch ge- merkt, wie viel mehr wir so von Gott abhängig wurden: von seinem Schutz, seiner Bewahrung und seiner Fürsorge. Massgeschneidert durch den Alltag Die Kleiderordnung ist wesentlich an- ders im Vergleich zum Westen. In un- serem guineischen Zuhause trug ich häufig ¾-Hosen. Bei Verlassen unse- rer Hofmauern war es angebracht, ein zweiteiliges Kleid oder einen knöchel- langen Rock und ein Kopftuch zu tra- gen. Bei der Wahl des Oberteiles war man weit freier als bei der Beinbe- deckung. Das war für mich eine grös- sere Umstellung, da ich lieber Hosen trage als Röcke oder Jupes. Einmal besuchte ich meine Freundin und trug einen Jupe, der nur bis zur Mitte des Schienbeins reichte. Keiner der Anwesenden verlor ein Wort darüber, dass die Länge zu kurz war. Doch als ich sie das nächste Mal besuchte und einen langen Rock trug, meinte meine Freundin: «So ist es eben gut!» Es war- en ganz klare Erwartungen vorhanden, wie ich mich zu kleiden hatte. Am An-

Michelle Vögeli Ehemals 9 Jahre in Guinea im Einsatz

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