Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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herrührt, die den Patienten in Analyse gebracht haben, und dass diese Konflikte den Fortschritt in seiner Analyse ebenso erschweren, wie sie ihm das Leben schwer machen. Diese Entwicklung war der Beginn der später so genannten modernen Konflikttheorie. Eine zweite Entwicklung waren die weitergehende Erforschung von Abwehrmechanismen, Ich-Funktionen und Ich-Aktivität und die daraus resultierende Auffassung, dass Verdrängungen und andere spezifische Abwehrformen keine Kompromissbildungen darstellen (Blum 1985). Das Ich kreiiert den Kompromiss nicht nur, sondern kann auch zwischen Alternativen wählen (Rangell 1963). Diese Entwicklung führte zu der heute so genannten zeitgenössischen oder modernen Ich- Psychologie. Während Arlow und Brenner die Notwendigkeit erläuterten, Widerstände zu analysieren, betonen ihre klinischen Beispiele allerdings deren Überwindung und nicht ihre Analyse. Gray (1994, 2005), Busch (1992, 1993, 1994,1995, 1999), Paniagua (2008) und Sugarman (1994) haben die Abwehranalyse im Rahmen der analytischen Methode der freien Assoziation weiterentwickelt. Die von Hans Loewald (1961, 1978) und Otto Kernberg (1975, 1983) formulierten Integrationen von Ich-Psychologie und Objektbeziehungstheorie sind für die freie Assoziation von höchster Relevanz. Seit den ausgehenden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wurde die Vorrangstellung der freien Assoziation in allen Regionen und psychoanalytischen Orientierungen im Zusammenhang mit den Fortschritten der Theorie und der Anwendung der psychoanalytischen Technik auf einen erweiterten Patientenkreis einer kritischen Neubetrachtung unterzogen. Die Folge waren zwei Trends bezüglich der jeweiligen zentralen bzw. peripheren Rolle der freien Assoziation. Sie spiegeln die historische Freud-Ferenczi-Kontroverse wider. In Nordamerika betonten moderne Strukturtheoretiker (Ich-Psychologen und Konflikttheoretiker) wie Anton Kris (1982, 1994), Fred Busch (1997) und Axel Hoffer (2006) weiterhin den Wert der freien Assoziation als Instrument zum tiefen Verständnis der inneren Welt des Patienten und all ihrer Weiterungen. Der post-bionianische Theoretiker Thomas Ogden (1996) sowie Irwin Hoffman (2006), Vertreter der relationalen Theorie, sind mit anderen der Meinung, dass freie Assoziationen die persönliche Urheberschaft [agency] der Patienten beeinträchtigen und ihre Privatsphäre verletzen. Zahlreiche moderne Analytiker wie Harold Blum (2019) und Otto Kernberg (2020) untersuchen Ich- Operationen ebenso wie Objektbeziehungen und verwenden die freie Assoziation je nach individueller Einschätzung in modifizierter oder eingeschränkter Form. Während diese Entwicklungen interregional von Bedeutung sind, hat doch jede Region sie auf eigene Weise formuliert. Mehr dazu unten.

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