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Klinisch übersetzt sich dies, vermittelt durch das Bündnis mit dem Ich des Patienten, in eine Haltung des Analytikers, die durch gleiche Distanz zu allen drei psychischen Instanzen und zur äußeren Welt gekennzeichnet ist, und zwar einhergehend mit erhöhter Aufmerksamkeit für die psychische Oberfläche, Abwehr- (und Widerstands-) prozesse und -muster. Die Oberfläche wurde als Abkömmling des tieferen unbewussten Konflikts verstanden. Technisch gesehen, meidet dieser an der „Oberfläche“ orientierte Ansatz eine übereilte Deutung der abgewehrten unbewussten Kräfte und Ingesehen,halte (Wünsche, Triebstrebungen und traumatische Erinnerungen) zugunsten einer Untersuchung der Widerstände und einer Verbesserung der Fähigkeit des Patienten zu Selbstbeobachtung und Selbstreflexion. Damit einher ging ein neuerwachtes Interesse am Vorbewussten, am manifesten Inhalt der Phantasien, Träume und Deckerinnerungen, am intrapsychischen Prozess an sich, verbunden mit intensiver, minuziöser Aufmerksamkeit für die Interaktionen zwischen unbewussten Trieben und unbewussten Abwehroperationen (Blum 1998; Rangell 1963; Skelton 2006; Paniagua 2008). Die modernen regionalen nordamerikanischen und europäischen psychoanalytischen Wörterbücher, die keiner spezifischen theoretischen Richtung verpflichtet sind, definieren die Ich-Psychologie recht allgemein als „einen Zweig der Psychoanalyse einschließlich sämtlicher Untersuchungs- und Forschungsbereiche und klinischer Anwendungen, die auf das Konzept des Ichs und dessen Rolle im psychischen Funktionieren, in der Entwicklung, in der Psychopathologie und in der Behandlung fokussieren“ (Moore und Fine 1990; Auchincloss und Samberg 2012), sowie als einen „tiefenpsychologischen Ansatz, der verschiedenartige psychische Phänomene unter dem Gesichtspunkt des Ichs betrachtet“ (Akhtar 2009) und sich inbesondere auf die Untersuchung von Konflikt, Abwehrgeschehen, Anpassungen und vor allem Widerständen konzentriert. Während die modernen psychoanalytischen Wörterbücher in Lateinamerika die Ich-Psychologie mehrheitlich gar nicht mit eigenem Eintrag aufführen (Borensztejn 2014), enthält Ramón Parres’ (1977) Veröffentlichung „El Psicoanálisis como Ciencia“ [Psychoanalyse als Wissenschaft] eine einzigartige synthetische, unter einem ich- psychologischen Blickwinkel verfasste Übersicht der psychoanalytischen Methode sowie der Abwehrmechanismen, der Übertragung und des überragenden Einflusses unbewusster Prozesse auf das bewusste psychische Geschehen. „Selten zitiert, weithin benutzt“ – so könnte man den Einfluss der Ich-Psychologie auf die klinische Arbeit charakterisieren, der z.B. in einer detaillierten Anamnese einschließlich einer Beurteilung der Ich-Fähigkeiten und des Ich-Funktionierens im analytischen Prozess zum Tragen kommt. Berücksichtigt werden hier auch die Herstellung und Aufrechterhaltung de therapeutischen Bündnisses, die Widerstände und Abwehrmechanismen. Deren Beurteilung macht einen wichtigen Bestandteil des alltäglichen analytischen Instrumentariums aus, auch wenn der Beitrag der Ich- Psychologie dabei in ganz Lateinamerika keine Erwähnung findet.
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