Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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zudem anzunehmen, dass amae von dem “abhängigen” Beteiligten auch im Interesse des/der Anderen initiiert werden kann. Der amae- Empfänger kann zum Beispiel bewusst oder unbewusst die Verunsicherung und das Bestätigungsbedürfnis seiner Mutter wahrnehmen, die sich durch das Separationsbedürfnis des Kindes bedroht und zurückgewiesen fühlt; amae kann auch das Bedürfnis eines unsicheren Chefs befriedigen, seine Macht über einen schmeichlerischen Untergebenen zu spüren, oder das Bedürfnis eines alternden Elternteils, auch für ein kompetentes erwachsenes Kind noch wertvoll und wichtig zu sein. Einleuchtend ist aber auch, dass “freundliches” amae- Verhalten mitunter eine provozierende, aggressive Forderung maskieren kann. Diese kommt dann auf angemessen abhängige Weise daher und entspräche Dois (1989) Beschreibung der “negativen amae ”. Dois ursprüngliche Definition von Amae als “Hilflosigkeit und das Bedürfnis, geliebt zu werden”, betonte den Aspekt der Passivität. Diese Dimension ist offenbar von spezieller Komplexität. Ebenso wie Doi (1971, 1973, 1989) versteht auch Balint (1988 [1935], 1968) amae als ein biologisch determiniertes Streben/primäres Bedürfnis und Verlangen nach Liebe. Bethelard und Young-Bruehl (1998) wiederum sehen in Dois amae die – biologisch verankerte und mit der Geburt auftauchende - Erwartung nachsichtiger, duldsamer Liebe, die sie als liebevolle Wertschätzung [“cherishment”] bezeichnen. Nicht anders als zuvor Doi befürworten sie mit Blick auf amae eine Überprüfung des Postulats eines Selbsterhaltungstriebs. Die moderne Säuglingsforschung, die uns gezeigt hat, wie kompetent Babys aktiv interagieren können, verlangt nach gründlicherer Erforschung des auch für die amae -Psychologie relevanten “Passiv-Aktiv-Spektrums”. Im Kontext von amae spiegelt die auf der Verhaltensebene – u.a. von Bowlby (1971) – beobachtete Aktivität ein inneres Erleben wider, das sich als Bindung manifestiert (Doi, 1989). Wir könnten die These vertreten, dass amae - psychoanalytisch gesehen - ein Schichtenkonzept darstellt und ein aktives, trieb-/affektgestütztes Streben, passiv geliebt zu werden und sich anlehnen zu können, beschreibt. Alternativ zu Dois Definition von amae als “Bedürfnis-Trieb” [“desire-drive”] (Doi, 1971) könnte man amae als eine spezifische Form der Abwehr definieren, die in der Psychologie der Japans eine besonders wichtige Rolle spielt, wenngleich sie zweifellos auch anderswo in der östlichen oder westlichen Welt anzutreffen ist. Unter diesem Blickwinkel können wir amae als eine Abwehrmaßnahme des Ichs betrachten, genauer: als einen “Appell um Duldsamkeit und Nachsicht”, der – ganz unabhängig von der jeweiligen Phase im Lebenszyklus – zwischen Über-Ich-Anforderungen und Anforderungen des Es oder individuellen Bedürfnissen vermittelt. Möglicherweise ist diese Form der Ich-Abwehr in einer Gesellschaft notwendig, die absolute Über-Ich- Konformität erwartet. Hierarchische Beziehungsordnungen und Gruppenorientierung verlangen eine strikte Beachtung der Regeln und Rollen und schreiben Verhaltenskontrolle sowie die Geheimhaltung persönlicher Gedanken und Gefühle und die Lösung von Konflikten durch Beschämung vor. All dies sind offenbar Möglichkeiten, sich einer in der Feudalgesellschaft wurzelnden Über-Ich-Bildung

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