Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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verlangt, fördert er Compliance und heimliche Rebellion, die die Analyse kurzschließen und sie einengen können“ (S. 22). Interessanterweise klingt eine ähnliche Besorgnis/Beunruhigung bezüglich innovativer Sichtweisen des analytischen Denkens und der Behandlungstechnik, die für die analytische Arbeit mit Patienten des erweiterten Anwendungsbreichs auf einen Ersatz oder eine Einschränkung der freien Assoziation zielen, auch bei dem von Grund auf relationalen Analytiker Lew Aron an (siehe unten). III. Ae. Sichtweisen aus Französisch-Kanada Auf beiden Seiten des Atlantiks geht die französische analytische Tradition im Einklang mit der „dritten Topik“ (siehe die Einträge DAS UNBEWUSSTE und OBJEKTBEZIEHUNGEN) von einer Zwei-Personen-Psyche aus und nimmt an, dass ein Subjekt nicht durchgehend in der Lage ist, innerhalb seines eigenen Repräsentanzenbereichs zu funktionieren, was die Entwicklungsvoraussetzung für das Erlangen der psychischen Autonomie des innerlich konflikthaften freudianischen Subjekts ist. Eine Konsequenz der analytischen Arbeit mit einem erweiterten Patientenspektrum (d.h. mit Borderline-Patienten) besteht darin, dass der Fokus häufig auf die Bewältigung eines „Symbolisierungssprungs“ und die „Bildung von Repräsentationen“ gerichtet wird (Haber & Haber 2004; Green 2006). Ähnlich wie Jean-Luc Donnet (2010; siehe oben) erkennt auch Dominique Scarfone (2018) die freie Assoziation weiterhin als das zentrale Element der psychoanalytischen Methode an, das eine Öffnung des Prozesses der Übersetzung/Verdrängung bewirkt. Die Methode, die im Helmholtz’schen Modell der Psyche gründet, steht auch mit der modernen Neurowissenschaft im Einklang. Anhand des Konzepts der „Überraschung“ zeigt Scarfone theoretische und klinische Verbindungen auf zwischen freier Assoziation, Verführung, Trauma und Übertragung. Auf vielfältige Weise mit der psychosexuellen Entwicklung und der Komplexität des psychoanalytischen Prozesses verbunden, bleibt das Konzept der freien Assoziation als Instrument der psychoanalytischen Praxis diesem Autor zufolge unverzichtbar. André Green (2000), der im französischsprachigen Kanada einflussreich war, diskutiert neben einer spezifischen Eigenschaft des Assoziationsverhaltens, das er bei einigen Borderline-Patienten beobachtete, und der Rolle, die es bei der Aufrechterhaltung einer zentralen Abwehrposition spielt, auch eine bestimmte Aktivität der Psyche, die er als „phobisch“ bezeichnet. Durch Schaffung eines analytischen Raumes, in dem freie Assoziation und psychoanalytisches Zuhören möglich sind, kann der Analytiker Vorstellungen, die zuvor als katastrophisch empfunden wurden und dem Patienten nicht bewusst waren, aussprechen und miteinander verbinden und dem Patienten auf diese Weise helfen, Bedeutung zu erzeugen. Damit einher geht eine Entlastung von den ihn bislang beherrschenden, aber ihm nicht bekannten panischen Ängsten. Green bringt seine klinische Beschreibung mit

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