Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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nicht. Klinisch gesehen, verstand man die Forderung, in der analytischen Haltung zu allen drei psychischen Instanzen und zur äußeren Welt gleiche Distanz zu halten (A. Freud 1936), als Forderung nach einer „gleichbleibenden Distanz zum Patienten“ (Tessier 2004, 2005). Dies ist mit der Empfehlung französischer Autoren wie Bouvet, Green, McDougall und Roussillon, der Analytiker solle sich flexibel gegenüber seinen Patienten verhalten und ihrer Reaktion auf Distanz Aufmerksamkeit widmen, unvereinbar (siehe auch die Einträge DAS UNBEWUSSTE, INTERSUBJEKTIVITÄT, SELBST). Dem deutschen „Ich“ entsprechen im Grunde weder „ego“ noch „le moi“. Während in der englischsprachigen Psychoanalyse ein wachsendes Bedürfnis zu verzeichnen ist, das Konzept des „Selbst“ weiterzuentwickeln, um die in „ego“ fehlende Subjektivität zu erklären, geht das Bedürfnis nach einer vergleichbaren Entwicklung in der französischen Psychoanalyse zurück, da „le moi“ bereits „selbst-gesättigt“ ist. Interessanterweise besteht zwischen dem spanischen „Yo“ und dem portugiesischen „Eu“ ganz ähnlich wie im Falle des französischen „le moi“ eine enge Beziehung zur Subjektivität, so dass die Verwendung eines dem Begriff „Selbst“ entsprechenden Konzepts in Untersuchungen über die Subjektivität in der lateinamerikanischen Region kaum notwendig erscheint. Die Schlussfolgerung aber ist eine andere: Die Unterscheidung zwischen „ego“ als abstraker mentaler, Funktionen erfüllender Struktur und Selbst als Person insgesamt (Resnik 1971-72) wird theoretisch anerkannt; Hartmanns und Jacobsons Konzepte werden in synthetische Modelle der Psyche, in denen das Ich eine die Selbstrepräsentanzen enthaltende psychische Struktur ist, integriert (Grinberg 1966, S. 242f.). Kritik an der allzu engen Definition der Ich-Psychologie In der sogenannten „Hartmann-Ära“ (2. Weltkrieg bis 1970) beherrschten Hartmanns, Kris’ und Loewensteins (sowie Anna Freuds) Theorien den „freudianischen“ psychoanalytischen Diskurs vor allem im englischsprachigen Nordamerika in solchem Maße, dass der Eindruck einer Hegemonie entstand. „Dass es sich bei ihnen auch um individuelle Autoren handelte, wurden damals nicht wirklich anerkannt. […] In der Gruppe Anna Freuds in England interessierte man sich weit mehr für die Probleme der Abwehr und für die Entwicklung als für einen abstrakten Diskurs über Ich-Funktionen, Energieumwandlungen und eine allgemeine Psychologie der Anpassung“ (Blum 1998, S. 32). In der französischen Tradition definierten Jean Laplanche und Jean-Bertrand Pontalis (1967/1973) das Freud’sche „Ich“ als (1) Kern des Bewusstseins und Ensemble aktiver psychischer Funktionen; (2) Organisator der Abwehroperationen und (3) Instanz, die zwischen äußerer Realität, Es und Über-Ich vermittelt. Sie sehen in der Schule der Ich-Psychologie von Hartmann, Kris, Loewenstein und Rapaport eine von verschiedenen Richtungen, die sich um eine möglichst konsistente Formulierung der

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