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auseinandersetze, „in dem das um soziale Anpassung bemühte Individuum die wohlwollende Unterstützung seitens seiner Gesellschaft findet“ (S. 439). Und weiter: „Die Fragen, mit denen die Ich-Psychologen sich auseinandersetzten, betrafen 1. die Entstehung des Ichs aus einem symbiotischen primären Narzißmus; 2. die spezifischen Funktionen des Ichs, einschließlich jener, die zu den konfliktfreien Bereichen des Ichs gehören (Motilität, Wahrnehmung, Erinnerung usw.); 3. die Anpassungs- und auch Abwehrmechanismen des Ichs; 4. die Entwicklung einer präzisen Technik, das Vorbewußte zu deuten; und 5. die Loyalität gegenüber der geistigen Haltung, die Freuds frühen Versuchen zugrunde lag, eine wissenschaftliche (deterministische) Psychologie zu erarbeiten“ (S. 440). Die kulturell orientierte interpersonale Psychiatrie Sullivans, die behavioristische Tradition, die starke Tradition der Lerntheorien und die Entwicklungspsychologie, so Hinshelwood, haben den Anpassungsaspekt und die mechanistische Terminologie der Ich-Psychologie in den USA möglicherweise verstärkt und die Auffassung begünstigt, dass das Ich und seine Entwicklung von der klassischen psychoanalytischen Theorie der Triebreduktion und den Abwehrmechanismen der Projektion und der introjektiven Identifizierung nicht vollständig erfasst werden (S. 437). In Nordamerika bezog sich die interne Kritik an der Ich-Psychologie der „Hartmann-Ära“ (Blum 1998, 2010, 2015; Busch 2000; Balsam 2012) auch auf die „phallozentrischen“ Sex- und Genderauffassungen, auf die Übergewichtung des Ödipuskomplexes, erfahrungsferne und unpersönliche Deutungen, auf Konfrontation statt Analyse von Abwehroperationen, fehlende Berücksichtigung von Traumata, auf die Übersteigerung der Psychoanalyse zu einer allgemeinen Psychologie und auf den irrigen Anspruch, Anpassung unter einem rein psychoanalytischen, andere Disziplinen ausschließenden Blickwinkel zu erklären. Durch Hartmanns außerordentlich komplexen, schwer verständlichen Schreibstil wurden Missverständnisse begünstigt. Laut Nancy Chodorow (2004) beruht die von britischen Objektbeziehungstheoretikern, französischen Analytikern und anderen Kritikern vertretene Behauptung, die Nordamerikaner glaubten nicht länger ans Unbewusste oder an die Triebe, darauf, dass sie „Hartmanns Studie ‚Ich- Psychologie und Anpassungsproblem‘ (1939/1960) dahingehend missverstanden haben, als befürworte er die Anpassung des Menschen an eine kranke Gesellschaft, während er sich in Wirklichkeit an einer strukturtheoretischen Neuinterpretation von Freuds ‚Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens’ versuchte“ (S. 214). Die Ich-Psychologie der „Hartmann-Ära“ (Bergmann 2000) fand außerhalb der Vereinigten Staaten nur begrenzt Anklang. Dies hing möglicherweise nicht in erster Linie mit den Konzepten an sich zusammen, sondern mit der Art und Weise ihrer Vermittlung, die durch subjektive Faktoren beeinflusst wurde. So schrieb André Green
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