Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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Hartmann die Psychoanalyse als eine „Naturwissenschaft“ und zeigte, dass diese Neudefinition wichtig war, um die Kollaborationsfähigkeit der Disziplin mit der allgemeinen Psychologie und den Sozialwissenschaften sicherzustellen. Diese Priorität und Perspektive wurden zwischen 1950 und 1970 zum vorherrschenden psychoanalytischen Paradigma in den Vereinigten Staaten. In Europa ist es dazu nie gekommen. Hier zogen die hegemoniale Agenda und der monolithische Charakter der, wie man auch sagte, „amerikanischen Ich- Psychologie“ ihrer Rezeption Grenzen. Paul Paris hat die Einseitigkeit, mit der die Ich- Psychologie praktisch ausschließlich in der unilateralen, von Heinz Hartmann und seinen Mitarbeitern vertretenen Form aus den Vereinigten Staaten nach Europa importiert wurde, 1990 in seinem Artikel „Die Beschädigung der Psychoanalyse in der angelsächsischen Emigration und ihre Rückkehr nach Europa“ untersucht. In dem bei Einaudi erschienenen, von Barale, Bertani, Gallese, Mistura und Zamperini (2007) herausgegebenen modernen italienischen Wörterbuch der Psychoanalyse wird die Ich-Psychologie vollständig mit der oben erläuterten engen nordamerikanischen Definition in eins gesetzt. Von den Verfassern des Eintrags, Fornaro und Mignone (2007), wird die europäische Nachkriegsentwicklung auf diesem Gebiet überhaupt nicht erwähnt. In ähnlicher Weise erwähnt ein deutsches Wörterbuch (Hartkamp 2008) in seiner Definition der „Ich-Psychologie“ lediglich zwei deutschsprachige Autoren, nämlich Peter Fürstenau und Annelise Heigl-Evers. Es ist eine Paradoxie, dass Martin Bergmann in seinem vielgerühmten Buch „The Hartmann Era“ (2000) die erste Generation der Ich-Psychologie praktisch ausschließlich mit der Arbeit Heinz Hartmanns und seiner engsten Mitarbeiter identifiziert, keinen einzigen signifikanten ich-psychologischen Beitrag aus Europa anführt und Otto Fenichel lediglich beiläufig erwähnt, obwohl dieser doch von Hartmann selbst ausführlich als wichtiger Beiträger zur Theorie und Technik der Ich- Psychologie zitiert wird. Ganz ähnlich lässt David Rapaport in seiner selektiven, in Europa zu Einfluss gelangten Übersicht „A historical review of psychoanalytic ego psychology“ (1958a) sowohl Sándor Ferenczis als auch Paul Federns Beitrag unerwähnt, obwohl Hartmann beide Autoren in seinen zahlreichen Beiträgen zitiert. In Rapaports Augen endete die erste Phase im Jahr 1897 mit Freuds Absage an seine Verführungstheorie; die zweite Phase endete 1923 mit der Veröffentlichung von „Das Ich und das Es“ (Freud 1923b); die dritte Phase verbindet Rapaport mit Freuds Entwicklung seiner eigenen Ich- Psychologie; sie endet 1937; die vierte Phase fällt mit den einflussreichen Publikationen Anna Freuds (1936), Erik H. Eriksons (1937), Karen Horneys (1937), Heinz Hartmanns (1939/1964), Abram Kardiners (1939) und H. S. Sullivans (1940) in eins; in dieser Phase formulierte Hartmann seine spezifische Version der Ich- Psychologie mitsamt seinen Konzepten des angeborenen (noch nicht konflikthaften) Ich-Funktionierens und der Autonomie des Ichs.

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