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beginnen manche Analytiker die Behandlung in der von Jane Hall (1998) empfohlenen Weise, nämlich als analytische Psychotherapie im Sitzen mit einer oder zwei Wochenstunden und dem vorläufigen Ziel, sich den Hauptbeschwerden zu widmen und ihre dynamische Grundlage zu untersuchen. Dieses Vorgehen ermöglicht es dem Patienten, nach und nach Zugang zum Prozess des freien Assoziierens zu finden. Nach einer Weile kann die Analytikerin „die Behandlung vertiefen“ (Hall 1998) und eine Analyse im eigentlichen Sinn vorschlagen, wenn der Patient entsprechend motiviert und in der Lage ist, neues Material zu integrieren. Wichtig ist, dass die Qualität der in Reaktion auf Interventionen der Analytikerin erfolgenden Assoziationen von dieser als Orientierungshilfe bei der Entscheidung genutzt werden kann, wann eine intensivere analytische Erfahrung empfehlenswert ist, die mit einer größeren Zahl von Assoziationen und einer entsprechenden Mehrung des Deutungsmaterials einhergeht. Im Laufe der dynamisch-diagnostischen Begutachtung (Blackman 2010) kann ein Übermaß an Primärvorgang im Bewusstsein (verdichtetes symbolisches Denken) zu Lasten von Realitätsprüfung , logischem Denken und Kommunikation (Sekundärvorgang) auf ein schwerwiegendes Entwicklungsdefizit hinweisen, das es notwendig macht, auf die Aufforderung zur freien Assoziation vollständig zu verzichten oder sie zumindest sorgfältig zu kalibrieren (Freud 1940a [1938]; Hoch & Polatin 1949; Kernberg 1975). Nicht-psychotische Patienten, die von Phantasien überwältigt werden, benötigen vor der Aufnahme des Prozesses der freien Assoziation häufig einen Realitätscheck oder eine „reconstruction upward“ (Loewenstein 1958; Kanzer 1953). Ein Mangel an oder ein Übermaß an Primärvorgang im Bewusstsein kann ein Zeichen für einen zugrundeliegenden psychotischen Prozess sein. In diesem Fall ist jede Aufforderung zum freien Assoziieren kontraindiziert (Freud 1940a [1938]; Blum, siehe oben). Es gibt jedoch auch nicht-psychotische Patienten, deren Mangel an Primärvorgangsgeschehen auf eine zugrundeliegende mittelschwere Charakterpathologie verweisen kann und die u.U. von Modifizierungen der Verwendung freier Assoziationen in einer übertragungsfokussierten analytischen Psychotherapie profitieren (Kernberg 1983, 2015; siehe unten). Auch relationale Behandlungsverfahren (siehe unten) ermöglichen es Patienten, in der Beziehung zum Therapeuten erst einmal „warm zu werden“. Dann erst können sie von ihrem Zugang zu symbolischen oder verdichteten Gedanken profitieren (Renik 1999; Mitchell 2001). Die Selbstpsychologie (siehe unten) sowie intersubjektive Ansätze mit einem Minimum an freier Assoziation (Stolorow 2013; Goldberg 2001) arbeiten bekanntlich mit Patienten, die unter narzisstischen Störungen des Selbst (Kohut 1977) und frühen Störungen des Selbstbildes (Tonkin & Fine 1985; Mahler et al. 1975) leiden. (Siehe die Einträge SELBST und INTERSUBJEKTIVITÄT.) Eine weitere an der freien Assoziation beteiligt Ich-Funktion, die mit dem Primärvorgang zusammenhängt und einer Neubetrachtung bedarf, ist die Fähigkeit zu
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