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Die maßgeblichen Texte der (nordamerikanischen) Ich-Psychologie wurden zwar in Frankreich, Italien und Deutschland übersetzt und veröffentlicht, doch insgesamt gesehen überlebte die Ich-Psychologie in Europa nicht nur in der Form, in die sie von Heinz Hartmann und seinen Mitarbeitern gegossen wurde, sondern vor allem in Gestalt einer ganzen Reihe eigenständiger Beiträge , die unten, im Abschnitt über Europa, im Einzelnen erläutert werden. Die lateinamerikanische Perspektive: Lateinamerika hat der Ich-Psychologie im Großen und Ganzen keine Gerechtigkeit widerfahren lassen. Mexiko ist das einzige lateinamerikanische Land, in dem psychoanalytische Institute die Ich-Psychologie in ihrem Curriculum aufführen. In anderen lateinamerikanischen Ländern, etwa Kolumbien, Argentinien, Chile, Venezuela, Peru und Brasilien, wird während der gesamten psychoanalytischen Ausbildung kein einziges Seminar speziell zur Ich-Psychologie angeboten. Vermutlich infolge des Einflusses von Melanie Klein, aber auch Jacques Lacans sieht man die ich- psychologische Theorie in allzu großer Nähe zum kognitiven Behaviorismus und spricht ihr die libidinösen Aspekte ebenso ab wie die Subjektivität. Cecilio Paniagua (2014) vertritt die These, dass viele seiner Kolleginnen und Kollegen in Lateinamerika die Entwicklung der Ich-Psychologie seit Hartmann ebenso wenig kennen wie moderne Modelle, die in Nordamerika weitverbreitet sind; eine solche Unkenntnis führt, so Paniagua, zu Voreingenommenheit und zu der Kritik, dass die Ich-Psychologie überflüssig und oberflächlich sei und die Bedeutsamkeit der Triebe und der unbewussten Phantasie bagatellisiere. Pereira et al. (2007) und Arbiser (2003) stellen ebenfalls Spekulationen über mögliche soziokulturelle und politische Einflüsse an und nehmen eine starke regionale Theorienpräferenz für europäische Autoren zu Lasten nordamerikanischer wahr, die einen maßgeblichen Einfluss auf die Rezeption der Ich-Psychologie auszuüben scheint. Gleichwohl gehören Hartmann, Kris, Loewenstein, Jacobson und Anna Freud zum Kerncurriculum mexikanischer psychoanalytischer Institute. Hier erwartet man, dass Kandidaten Eriksons epigenetische Stufen des Lebenszyklus und Anna Freuds „Das Ich und die Abwehrmechanismen“ bereits während ihres Universitätsstudiums kennengelernt haben. Die geographische Nähe zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten sowie die Möglichkeit, in den USA zu studieren, mag eine Rolle spielen. Ein Beispiel ist sicherlich Ramón Parres, einer der Gründer der mexikanischen psychoanalytischen Gesellschaft (Asociación Psicoanalítica Mexicana APM), der in den Vereinigen Staaten Psychiatrie studierte und anschließend seine psychoanalytische Ausbildung absolvierte. In seinem Buch „El Psicoanálisis como Ciencia” (Parres 1977) beschreibt er verschiedene Abwehrmechanismen, die Übertragung sowie den Einfluss der unbewussten auf die bewussten Prozesse unter einem ich-psychologischen Blickwinkel.
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