Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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Als ein Beispiel für die zunehmende Differenzierung untersuchte Hartmann den Bereich der „intrasystemischen“ Verhältnisse im Ich. Seine Aufmerksamkeit galt der Konkurrenz zwischen verschiedenen Ich-Interessen und zwischen verschiedenen Ich- Funktionen , die er als intrasystemische Konflikte beschrieb und von den intersystemischen unterschied. Unter Verweis auf die zahlreichen Gegensätze im Ich betonte er, dass diese intrasystemischen Korrelationen und Konflikte in besonderem Maß bei der Beurteilung der Ich-Stärke oder Ich-Kontrolle zu berücksichtigen seien, weil Stärke in einem Bereich zur Quelle von Ich-Schwäche in anderen Sphären werden könne – gerade so, wie eine gelungene Anpassung in einer Richtung zur Beeinträchtigung und Unausgewogenheit in anderen führe. Laut Hartmann wären sämtliche Definitionen der Ich-Stärke unbefriedigend, wenn sie lediglich die Relationen zu den übrigen psychischen Systemen berücksichtigten, nicht aber die intrasystemischen Faktoren und die wechselseitigen Beziehungen zwischen den unterschiedlichen Bereichen der Ich-Funktionen. Dieses Gebiet hat ganze Generationen freudianischer Denken zu weiteren Untersuchungen angeregt. Ein Beispiel ist Leo Rangell (1963, 1969a), der intrapsychische Konflikte erforschte. Hartmann beschrieb neben den Ergänzungen und Konsolidierungen in der Struktur des Ichs an sich (dessen Aktivität und Elastizität er betont) detailliert weitere Funktionen (außer der Abwehr) und weitere Prozesse, z.B. die Neutralisierung; er legte die in dynamischer, entwicklungspsychologischer und funktionaler Hinsicht adaptiven Aspekte der Abwehroperationen dar, erörterte die Wandlungsfähigkeit, durch die sich menschliche Triebe gegenüber den tierischen Instinkten auszeichnen, und formulierte Klärungen zahlreicher Konzepte, etwa dem der Sublimierung, der Identifizierung, Internalisierung und Introjektion. Er zeigte die Flexibilität der psychoanalytischen Methode, Technik und Veränderung auf – „Prinzip des mehrfachen Appells“ (1951 /1972, S. 155f.) – und unterstrich den Status der Psychoanalyse als Wissenschaft, erweiterte sie auf die normale und allgemeine Psychologie und auf die direkte Kinderbeobachtung und beschrieb eine nicht-lineare (regressive / progressive) Definition der Entwicklung sowie ein Kontinuum von Gesundheit und Krankheit sowie von Anpassung und Fehlanpassung: “Aber ein gesunder Mensch muß die Fähigkeit haben, zu leiden und deprimiert zu sein. Unsere klinische Erfahrung hat uns die Konsequenzen erkennen lassen, die sich ergeben, wenn man über Krankheiten und Leiden hinwegsieht, wenn man unfähig ist, sich selbst die Möglichkeit der Krankheit und des Leidens einzugestehen. Es ist sogar zu vermuten, daß ein begrenzter Betrag an Leiden und Krankheit sogar einen integralen Teil des Gesundheitsschemas bildet oder eigentlich, daß Gesundheit nur auf indirekten Wegen erreicht wird. Wir wissen, daß erfolgreiche Anpassung zu Fehlanpassung führen kann – die Entwicklung des Über-Ichs ist ein hierher gehörender Fall – und es ließen sich viele andere Beispiele anführen. Aber umgekehrt kann Fehlanpassung zu erfolgreicher Anpassung werden. […] In bezug auf den therapeutischen Prozeß der Analyse entdecken wir einen ähnlichen Sachverhalt. Hier schließt die

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