Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

Zurück zum Inhaltsverzeichnis

6. Es war wichtig, Hartmann zu lesen, aber die Lektüre war zugleich schwierig. Viele Seminare wurden womöglich in einer Weise durchgeführt, die weniger einer kritischen Würdigung als vielmehr einer Idealisierung seiner Beiträge zuträglich war. Die Ich-Psychologie der „Hartmann-Ära“ (Bergmann, 2000) fand außerhalb der Vereinigten Staaten weniger Anerkennung. Dies hatte, wie André Green (2000) andeutete, mancherlei Gründe: „[…] wir dürfen behaupten, dass der breite Erfolg Hartmanns mit der Überzeugung der Amerikaner von ihrer eigenen Überlegenheit zusammenhing“ (S. 106). Sogar neuere internationale Autoren (Sapisochin 2015) lassen gewisse historische Ressentiments anklingen, wenn es um Hartmanns vermeintliches Selbstverständnis als Alleinvertreter Freuds geht. Nancy Chodorow (2004) führt die Behauptung der britischen objektbeziehungstheoretischen, der französischen und der nordamerikanischen Kritiker, dass die nordamerikanischen Ich-Psychologen nicht mehr ans Unbewusste oder an die Triebe glaubten, darauf zurück, dass sie „Hartmanns Studie ‚Ich- Psychologie und Anpassungsproblem‘ (1939/1960) dahingehend missverstanden haben, als befürworte sie die Anpassung des Menschen an eine kranke Gesellschaft, während sich Hartmann in Wirklichkeit an einer strukturtheoretischen Neuinterpretation von Freuds ‚Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens’ versuchte“ (S. 214). III Bb. Entwicklung nach Hartmann: Aufstieg der modernen Konflikttheorie, der zeitgenössischen Ich-Psychologie und die Anfänge integrativer Modelle Während Anna Freud, Hartmann und seine Mitarbeiter die Speerspitze in der Entwicklung der Ich-Psychologie bildeten, weckte die Frage, wie die Ich-Funktionen mit der Es- und der Über-Ich-Aktivität zusammenhängen, in den folgenden Jahrzehnten das Interesse nordamerikanischer analytischer Theoretiker (Bergmann, 2000). Die Aufmerksamkeit wandte sich dem intrapsychischen Konflikt mit den Komponenten Trieb, Angstsignal, Abwehr und Kompromiss zu, einem von Arlow und Brenner (1964) entwickelten Konzept. Die Autoren betonten die Vorteile von strukturtheoretischen Erklärungen gegenüber solchen, die sich auf die topische Theorie stützen. Manche Autoren (Busch, 1995) sind der Ansicht, dass Arlows und Brenners Arbeiten eine wesentliche Abkehr von Hartmann und seinen Kollegen bedeuteten. Arlow und Brenner waren der Überzeugung, dass die Unterscheidung zwischen den konflikthaften und den nicht-konflikthaften Sphären des Ichs übertrieben scharf getroffen worden sei (Busch, 1992, 1993). Arnold Richards (Richards und Willick, 1986) hielt es für vorstellbar, dass Brenner durch eine Erweiterung der Konzepte Kompromissbildung und Signalaffekte und durch die Betonung, dass jede Art des psychischen Geschehens zu Abwehrzwecken in Dienst genommen werden könne, schließlich zu einem Modell der Psyche im Konflikt gelangen könnte, in dem sich die

126

Made with FlippingBook - Online magazine maker