Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

Zurück zum Inhaltsverzeichnis

Gestützt auf Freuds Überlegung, dass das Unbewusste entwicklungsfähig ist, schreibt Bollas, dass der Analytiker „durch seine Aufforderung zum freien Assoziieren […] nicht nur das Netzwerk des Wissens vergrößert, sondern gleichzeitig auch den Bereich des Unbewussten des Patienten erweitert ” (S. 39f.). Bollas betrachtet die Worte, die der Patient in den Sitzungen benutzt, sehr genau, und sagt, dass jedes Wort viele mögliche Bedeutungen haben könne. Auf die Frage, was es bedeutet, die eigene Wahrheit zu suchen, antwortet Bollas, es bedeute zu versuchen, „unbewusste Konflikte zu re-präsentieren, damit der Repräsentationsprozess an sich […] die Aufgabe der Befreiung des Selbst in Angriff nehmen kann. Die Lust an der Repräsentation findet eine weitere Lust: die Lust an der Selbstentdeckung und die Lust daran, verstanden zu werden“ (S. 62). Freie Assoziation „produziert im Laufe der Zeit weitere ‚gesprochene Objekte‘“, die Bollas als ein „Netzwerk“ für das freudianische Paar bezeichnet. Die „Wirkung einer Psychoanalyse mag sehr wohl […] in der zutiefst bedeutsamen Erfahrung bestehen, das eigene Selbst einem Anderen verständlich zu machen“ (S. 66). Die freie Assoziation des Patienten und die gleichschwebende Aufmerksamkeit des Analytikers dienen dafür als Grundlage. IV. B. EUROPÄISCHE FRANZÖSISCHE PSYCHOANALYTISCHE TRADITION In der europäischen französischen Tradition wurde die Bezeichnung „freie Assoziation“ letztlich ersetzt durch „Assoziativität“. Dies geschah vor allem unter dem Einfluss Jean Laplanches und seiner präzisen Übersetzung von Freuds „Einfall“ mit „idée incidente“. Drei französische Arbeiten zur Assoziativität sind besonders hervorzuheben. Ihnen liegt die Betonung einer Vorgehensweise zugrunde, die der Analyse des psychischen Prozesses Vorrang gegenüber der Inhaltsanalyse einräumt. 2016 formulierte Jean-Luc Donnet eine umfassende Sichtweise der Metapsychologie der Methode, indem er zwischen dem Verfahren und der Grundregel unterschied. Das Verfahren betrifft eine „fokale“ Anwendung der zuerst von Freud benutzten Methode, während die Grundregel, die Freud 1907 definierte, die Assoziationsreihe betrifft, die im Laufe der gesamten Behandlung von Sitzung zu Sitzung artikuliert wird. Verständlich wird diese Reihe oder Kette von Assoziationen als eine Funktion der spezifischen Übertragungsmomente, die in der Behandlung auftauchen. Wenn der fokale Prozess und die Grundregel im Laufe der Behandlung ineinandergreifen, ist der Gesamtprozess der assoziativen Reihungen für die psychoanalytische Praxis entscheidend. Donnet betont, dass die Grundregel im Behandlungsverlauf ihren „Über-Ich- Charakter“ verlieren und stattdessen den Übergangscharakter (im Winnicott’schen Sinn) eines Spiels annehmen und sich am Ende als „die Regel des psychoanalytischen Spiels“ erweisen müsse. Sie bleibt der wichtigste Organisator der psychoanalytischen

134

Made with FlippingBook - Online magazine maker