Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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Ein psychoanalytische Studie über den Tast- oder Berührungssinn ist ein spezielles Beispiel für eine Weiterentwicklung des Körper-Ich-Konzepts in der heutigen nordamerikanischen freudianischen Theorie – der breitesten Strömung zeitgenössischer Weiterentwicklungen der Strukturtheorie/Ich-Psychologie –, die Einflüsse aus unterschiedlichen psychoanalytischen Kulturen, aber auch interdisziplinären Erkenntnissen in sich aufnimmt und synthetisiert. Der Berührungssinn ist eines der zwei angeborenen sensomotorischen Systeme, die schon in utero nachweisbar sind. Die Haut des Fötus ist umgeben vom Fruchtwasser; der Fötus lutscht am Daumen und berührt seinen Körper im letzten Schwangerschaftstrimester mit den Händen – zunächst den Kopf, und schließlich bis hinunter zu den Füßen. Berührungen sind für die frühe Entwicklung der Objektbeziehungen und für die Differenzierung des Selbst von der äußeren Welt und von anderen Individuen unverzichtbar. Selbst versus Nicht-Selbst ist zudem ein wesentlicher Aspekt der Realitätsprüfng und des Gefühls oder der Wahrnehmung dessen, was real ist. Die Bedeutsamkeit des Berührungssinnes und seiner Beziehung zur Kognition und zu den Affekten ist in geläufigen Metaphern enthalten, etwas wenn „berühren“ in einem emotionalen Sinn gemeint ist oder „erfassen“ die Bedeutung von „verstehen“ erhält, also einen kognitiven Vorgang bezeichnet. Menschen jeden Alters fühlen sich durch Kunstwerke, Literatur, Musik usw. affektiv angesprochen und emotional berührt. Sie „fühlen“ sich traurig oder froh, tanzen vor Verliebtheit, empfinden die Trauerkeit in einem Trauermarsch. Sie sind dünnhäutig, wenn ihre Gefühle verletzt wurden, und haben ein dickes Fell, wenn sie unsensibel sind. Die psychoanalytische Literatur, die sich speziell mit der Bedeutsamkeit des Berührungssinnes beschäftigt, ist dünn gesät. Gleichwohl ist die Berührung in Freuds Formulierungen über die Träume, über das Lust-Unlust-Prinzip, die Selbsterhaltungs- und die Ich-Triebe (die in der späteren Theorie zu Ich-Funktionen wurden) enthalten. Lediglich indirekt nahm Freud (1923b) auf Berührung Bezug, als er erklärte: „Das Ich ist vor allem ein körperliches, es ist nicht nur ein Oberflächenwesen, sondern selbst die Projektion einer Oberfläche “ (S. 253). Merleau-Ponty (1959/ 2004), Philosoph und Kinderpsychologe, hat in seinen postum erschienenen Arbeitsnotizen unter dem Titel “Die Verflechtung – der Chiasmus” die doppelte Wahrnehmung – Berühren und Berührt-Werden - der Berührung der eigenen Hände beschrieben. Sich selbst anzufassen erzeugt eine andere Wahrnehmung, als wenn man einen Anderen anfasst. Der Tastsinn ist unabdingbare Voraussetzung für das Kennenlernen der Welt. Seine Bedeutsamkeit ist auch in Donald Winnicotts (1953) Konzept des Übergangsobjekts und in John Bowlbys (1969) Beschreibung des sich an die Mutter klammernden Kindes enthalten. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch Jean Piagets (1954/1974) Studie Der Aufbau der Wirklichkeit beim Kinde . Unter Verweis auf den von Geburt an funktionierenden Greifreflex erklärte Piaget, dass das Greifen von Objekten einschließlich Körperteilen in Koordination mit dem Gesichtssinn die Entwicklung der Objektpermanenz und die Kenntnis der äußeren Realität fördert. Das Affenexperiment

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