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von Harry Harlow und Margaret Harlow (1965) zeigte die Bedeutung sanfter, weicher Berührungen für die Entwicklung von Primaten auf. René Spitz (1965) erklärte, dass für den sich entwickelnden Säugling nicht allein die Ernährung unverzichtbar ist, sondern auch das Berührt- und Gehaltenwerden. Säugling und Mutter konstruieren gemeinsam einen Urdialog. Esther Bick (1968) untersuchte die Bedeutsamkeit von Berührungen, als sie beschrieb, wie der Hautkontakt des an der Brust trinkenden oder ans Gesicht der Mutter geschmiegten Säuglings dessen auftauchende Objektbeziehungen fördert. Didier Anzieu (1985) formulierte das Konzept des “Haut-Ichs”. Dieses entwickelt sich in der Dyade unter dem Einfluss des Hautkontakts von Baby und Mutter sowie der Stimme und des Atems der Mutter als eine Art Container oder als “psychische Hülle” und wird zu einer narzisstischen Grundlage des Wohlbefindens. Das Haut-Ich umhüllt das Selbst, hat Verbindungen zu Ich-Funktionen, zum Selbst, zur Identität, zu Objektbeziehungen und dient als schützende Grenze oder Membran (Anzieu 1989). Harold Blum (2019) erläuterte die Bedeutsamkeit des Berührens und Haltens für die Entwicklung der Selbst- und Objektkonstanz . Die sensorische und priopriozeptive Wahrnehmung von Berührung ist für das Auftauchen des Körper-Ichs mit seiner Oberfläche, insbesondere der Haut, unverzichtbar (Chinn et al. 2019). Berührungen sind unabdingbar für die Differenzierung zwischen dem, was sich innerhalb bzw. außerhalb der Körperoberfläche befindet, sowie für die Unterscheidung zwischen Selbst und Nicht-Selbst. Die Körperoberfläche ist die Haut, und Berührungen hängen mit Affekten und Emotionen zusammen. Die emotionalen Aspekte der Berührung werden durch Massage, durch Wärme, Kälte, Kompression oder Distension erlebt. Die Haut nimmt auch dysphorische Reize wahr, zum Beispiel allzu starke Hitze, Kälte, Kompression, Abschürfung, Schneiden, Jucken. Solche dysphorischen Wahrnehmungen können dem Selbstschutz dienen, zum Beispiel dem Vermeiden von Verbrennungen. Berühren oder Streicheln der erogenen Zonen hängt mit erotischen Phantasien und mit Erregung zusammen, mit Masturbation und Geschlechtsverkehr. Jeder Aspekt des Lebens besitzt das Potenzial, bewusst oder unbewusst alle anderen zu berühren, und die allerersten mütterlichen Liebkosungen prägen sich der Entstehung der psychischen Struktur, dem Charakter und der Persönlichkeit, unauslöschlich ein. Während der in den Vereinigten Staaten der 1980er und 1990er Jahre erstarkte postmoderne Einfluss den biologisch basierten Konzepten Freuds und dem konkreten biologischen Essentialismus und Phallozentrismus der Jahre vor 1970 aus vielen Gründen zuwiderlief, haben der Feminismus und die modernen Genderstudies das Interesse am Körper-Ich neubelebt. Vertreterinnen und Vertreter dieses Trends stellten den phallischen Monismus in Sonderheften des „American Journal of Psychoanalysis“ 1976 und 1996 infrage; 2000 erschien die erste Ausgabe der neuen Zeitschrift „Studies in Gender and Sexuality“; insgesamt gesehen steigt die Anzahl von Publikationen über
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