Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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III Be. Anwendung der Ich-Psychologie zur Diagnose sowie Auswahl des Behandlungsverfahrens und der Technik

III Bea. Diagnose Das Diagnostische und Statistische Manual DSM III, IV und 5 (American Psychiatric Association, 1980, 1994 and 2013) sowie einschlägige Lehrbücher nehmen auf ich-psychologische Konzepte Bezug, auch wenn dies oft nicht explizit erwähnt wird (z.B. Sadock et al. 2009). Die Untersuchung des „psychischen Status“ umfasst gewöhnlich eine Beurteilung der Ich-Funktionen und Ich-Stärken, etwa der Regulation von Wünschen, Affekten und Primärvorgang, die die autonomen Ich-Funktionen durch unbewusste Regulation vor dem Zusammenbruch schützen. Man nimmt an, dass die Ich-Stärken verschiedene Ursprünge haben: erbliche; Internalisierungen von Trost und Grenzsetzungen in der Entwicklung; angemessene sichere Bindungen; eine erfolgreiche Individuation in der Kindheit und Identitätsbildung in der Adoleszenz; und eine erfahrungsbedingte „Abhärtung“ im Erwachsenenalter. Wenngleich phänomenologische Diagnosen „psychoanalytische“ Konzepte zumeist ignorieren, leiten sie ihre Beschreibungen, ohne dass es den Verfassern bewusst wäre, von der Ich-Psychologie her. So kann man beispielsweise die Schizophrenie als ein Syndrom betrachten, dass durch zahlreiche Defizite charakterisiert ist, nämlich durch Defizite der Integration (lose Assoziationen), der Abstraktion (Konkretismus), der Realitätsprüfung (dereistisches und paralogisches Denken) und durch ein Überwiegen des Primärvorgangs (Halluzinationen und Wahnbildungen). Robert Waelders Neuformulierung von Freuds (1900a, 1918b) Prinzip der Überdeterminiertheit als „Prinzip der mehrfachen Funktion“, in der heutigen Terminologie als wechselseitige Austauschbarkeit psychischer Elemente neuformuliert (Rangell 1983; Papiasvili 1995), kann auch auf die moderne multifaktorielle klinische Pathogenese Anwendung finden: Aktuelle statistische Zahlen lassen auf eine angeborene oder erbliche Grundlage der Fehlfunktionen des Gehirns schließen, die einigen der Ich-Defizite zugrunde liegen, die man bei Menschen mit einem schizophrenen Syndrom beobachtet (Willick 2001). Bei manchen Formen der Psychose hingegen können überwältigende äußere Faktoren (Misshandlung, sexueller Missbrauch, Krieg, Wohngegenden mit hoher Kriminalität) in der frühen Entwicklung eine „traumatische“ Ätiologie (Volkan 2015) konstituieren. Eine einheitliche Theorie der Psychosen auf Grundlage solcher Formulierungen kann jedoch irreführend sein (Willick 1994). Am anderen Ende der Skala finden sich die intakten Ich-Funktionen. Es gibt Patienten, die zwar über gravierende Probleme klagen, aber nur geringfügige oder gar keine Beeinträchtigungen der autonomen Ich-Funktionen oder der Ich-Stärken aufweisen. Sie leiden vielleicht unter Angst, Depression, Konversionssymptomen, Zwängen, Phobien oder einer Vielfalt von Persönlichkeitsstörungen, die sich praktisch

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