Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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vollständig konflikttheoretisch erklären lassen (Papiasvili 1995; Brenner 2006). Ein Vorteil dieser Störungen ist die „Analysierbarkeit“. Das bedeutet, dass die Abstraktions-, Integrations-, Realitäts- und Selbsterhaltungsfunktionen mehr oder weniger intakt sind. Die Patienten verfügen über genügend Impulskontrolle, Affekttoleranz und Kontrolle des Primärvorgangs; sie können sich empathisch verhalten, anderen vertrauen und emotionale Nähe aushalten (Objektbeziehungen/Bindung). Darüber hinaus sind ihre Über-Ich-Funktionen aktiv (sie können Scham- und/oder Schuldgefühle empfinden). Solche Menschen werden als „neurotisch“ angesehen, weil ihre Ich-Funktionen verhältnismäßig intakt sind und ihre Beschwerden in erster Linie durch fehlangepasste Kompromissbildungen hervorgerufen werden; hier haben wir es nicht mit Defiziten zu tun, sondern mit „überdeterminierten“ Lösungsversuchen (Waelder 1936a) zugrundeliegender intersystemischer Konflikte zwischen libidinösen und aggressiven Wünschen, Über- Ich, Realität sowie den daraus resultierenden Affekten und Abwehroperationen. In jeder Entwicklungsphase kommte es zu mannigfachen Kompromissbildungen (Blackman 2013). Manchmal schützt Material aus einer vorangegangenen Phase vor dem Bewusstwerden späterer Konflikte („libidinöse Regression“, Freud 1905b); in anderen Phasen schützen Konflikte in der späteren Entwicklung vor unbewussten Konflikten aus einer früheren Phase (auf die der Behandler mit der Technik der „Rekonstruktion nach oben“, Loewenstein 1957b, reagiert, die auch als „reaching up“, Volkan 2014, bezeichnet wird). III Beb. Behandlung und Wahl der Technik Für die Beurteilung der Analysierbarkeit sind Elizabeth Zetzels (1956) Konzept des therapeutischen Bündnisses u nd Ralph Greesons Konzept des Arbeitsbündnisses (1965) von besonderer Bedeutung. Beide heben ab auf Aspekte wie gemeinsame Zielsetzung, Vertrauen und Ethik (Meissner 1992). Im Einklang mit Hartmanns Konzipierung eines relativ „konfliktfreien Funktionierens“ des Ichs (Hartmann 1939/1960) scheinen diese klinischen/behandlungstechnischen Konzepte an Freuds Vorstellung anzuknüpfen, dass Analytiker und Analysand „einen Vertrag miteinander [schließen]“ (Freud 1940a [1938], S. 98), an sein Konzept der „unanstößigen“ positiven Übertragung (Freud 1912b, 1915a) und an Fenichels (1941c) „rationale Übertragung“, die insbesondere für Greensons Konzept des Arbeitsbündnisses relevant ist. Greenson (1965) listet etliche Ich-Funktionen des Patienten auf, die zusätzlich zur Bedeutung der Objektbeziehungen eine wichtige Rolle spielen und für die analytische Arbeit notwendig sind. Sie sind nicht auf verbale Mitteilungen beschränkt und umfassen die Fähigkeit, „auf vielfältige Weise zu kommunizieren, nämlich mit Worten und mit Gefühlen und seine Aktionen gleichzeitig zu kontrollieren“ (S. 174), die partielle Regression, freies Assoziieren, Zuhören, wenn der Analytiker spricht, Erfassen, Reflektieren und Introspektion, Erinnerung, Selbstbeobachtung und Phantasie; Übertragungsfähigkeit und Fähigkeit, den Kontakt

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