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zur Realität der analytischen Situation beizubehalten. Das Oszillieren zwischen diesen beiden Positionen ist für die analytische Arbeit unabdingbar. Als Psychoanalytiker sich fragten, wie die Technik für Patienten, die nicht mit den typischen Neurosen vorstellig wurden, modifiziert werden könnte, beschrieben Leo Stone (1961), Jacobson (1964), Kernberg (2008, 2016) und andere den sogenannten erweiterten Anwendungsbereich oder erweiterten Indikationsbereich der Psychoanalyse und ihre Arbeit mit Patienten, die präödipale Pathologien aufwiesen. Wenngleich Ich-Stärken und Objektbeziehungen im Falle sowohl der Psychosen als auch der „Beinahe-Psychosen“ („near-psychoses“, E. Marcus 2012) beeinträchtigt sind, wurden analytisch orientierte, ich-stärkende Interventionen (Frosch 1988) zusammen mit dem Aufbau besser angepasster Abwehrmechanismen (Blackman 2003) und sicherer und stabiler Objektbeziehungen (Fromm-Reichmann 1947; Alpert 1959; Kernberg 2008, 2015, 2016), aber auch psychotrope Medikamente empfohlen. Gravierende Beeinträchtigungen der Ich- und/oder Über-Ich-Funktionen repräsentieren ein Ende des diagnostischen Spektrums (Willick 2001). Manche Patienten mit weniger schweren Beeinträchtigungen können von analytisch basierten relationalen Verfahren (Mitchell 2000) und von Methoden, die auf das Selbst und die Intersubjektivität fokussieren (Atwood, Orange & Stolorow 2002) , profitieren. Diese Verfahren arbeiten in der Behandlung von Patienten, die unter Störungen des Selbstbildes leiden, mit Konzepten wie Realitätsprüfung, Wunsch und Abwehraktivität. Schwerkranke Patienten mit weniger gestörten Integrationsfunktionen und weniger beeinträchtigter Realitätsprüfung – sogenannte „beinahe psychotische“ (Doidge 2007) Patienten – können von der Technik der „Rekonstruktion nach oben“ (Loewenstein 1957) oder von einer „Übertragungsfokussierten Psychotherapie“ (Kernberg 2008) profitieren, die beide mit einem speziell modifizierten, dynamischen und deutenden Zugang arbeiten. Andere Autoren, die die Psychose als Resultat pathogener projektiver und introjektiver Mechanismen betrachten, behandeln psychotische Patienten mit analytisch orientierter Psychotherapie (Garfield 2011), die auf die Verbesserung des autonomen Ich-Funktionierens einschließlich Realitätsprüfung und Anpassung zielt. Bei geringfügiger Schädigung oder verzögerter Entwicklung der Ich- Funktionen besteht die Methode der Wahl in der psychoanalytischen Deutungstechnik, die heute nicht lediglich Deutungen der unbewussten konflikthaften bzw. kompromissbildenden Aktivität unterschiedlicher Ebenen betrifft, sondern auch eine sensible Abstimmung auf das Spektrum der nuancierten unbewussten Ich-Aktivität – und deren Deutung -, die an der Konstruktion multipler, auf unterschiedliche Lebensphasen des Patienten zurückgehender Übertragungskonfigurationen beteiligt ist (Rangell 1969b), die im psychoanalytischen Setting, aber auch in den Beziehungen des Patienten außerhalb der Behandlung auftauchen (Blum 1983a). Eine solche nuancierte Beurteilung des unbewussten Ich-Funktionierens und der Ich-Stärke ermöglicht eine individualisierte Modifizierung der Technik im Falle von Patienten mit einer oder mehreren beeinträchtigten Ich-Fähigkeiten. Zu denken ist
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