Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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VII. INTERDISZIPLINÄRE PERSPEKTIVE: NEUROWISSENSCHAFT UND FREIE ASSOZIATIONEN

In seiner Zusammenfassung der interdisziplinären Forschung zieht Grotstein (1995) den Schluss, dass Freud sich offenbar “nie klar machte, dass er tatsächlich die rechte Hirnhemisphäre entdeckt hatte“ (S. 396)! Bei einem Menschen, der auf dem Rücken liegend mit jemandem spricht, zu dem er keinen Blickkontakt hat, verlagert sich die Informationsverarbeitung im Gehirn bei Rechtshändern offenbar von der linken in die rechte Hemisphäre und bei Linkshändern von der rechten in die linke. Diesem Fund entspricht die Beobachtung von Säuglingsforschern, dass sich der Wachheitsgrad eines aufrecht sitzenden Babys, wie EEG-Untersuchungen zeigten, deutlich vom Wachheitsgrad in liegendem Zustand unterscheidet und zudem eine Aktivitätsverlagerung in den Hemisphären stattfindet. Die Aktivität verändert sich von einem hochgradig kontrollierten, organisierten, linearen, abstrakten Modus zu einem loseren, gleichschwebenden, holistischen und feldabhängigen Modus. Diese Verlagerung in die rechte Hemisphäre („right-brain shift“; Grotstein 1995, S. 397) in der liegenden Position auf der Analysecouch findet Ausdruck in den freien Assoziationen des Patienten. Sie sind im optimalen Fall in dem Sinne „frei“, als sie der Bearbeitung durch die linke Hemisphäre, der Zensur und der Kontrolle entzogen sind und zunehmend vom Unbewussten organisiert werden. Einige bemerkenswerte nordamerikanische, psychoanalytisch geschulte und für die freie Assoziation relevante neurowissenschaftliche Studien rekurrieren auf Freuds neurologische Abhandlung Zur Auffassung der Aphasien (Freud 1891b). In dieser Schrift erklärt Freud, dass die exakte Identifizierung und das Verstehen aphasischer Symptome die Unterscheidung zwischen Wortbedeutung und Wortvorstellung voraussetze. In diesem Kontext ist Freuds spätere Arbeit über den Primärvorgang (Freud 1900a, 1915e) eine dynamische Generalisierung seiner früheren, speziell auf die Aphasien bezogenen Annahmen. Ein Beispiel ist eine neurowissenschaftliche Studie von Villa, Shevrin, Snodgrass, Bazan und Brakel (2006), die speziell Freuds These überprüfte, dass Wortbedeutung und Wortvorstellung (z.B. phonemische und graphemische Eigenschaften; S. 117) bei unbewusster Verarbeitung funktional unterschieden sind (Freud 1891b, 1915e). Anknüpfend an frühere Studien über unbewusste Prozesse bei kognitiver Aktivität (Shevrin 1973, 2006; Shevrin, Williams, Marshall, Hertel, Bond & Brakel 1992; Snodgrass, Bernat & Shevrin 2004), über neurolinguistische Modelle prarallel- distributiver Verarbeitung (Seidenberg & McClelland 1989) und Dualsystemtheorien (Stanovich & West 2000), sollte diese – insbesondere für das Konzept der freien Assoziation relevante – Studie einen wichtigen qualitativen Unterschied zwischen bewussten und unbewussten lexikalischen Prozessen – von Freud (1950c [1895], 1911b) als Primär- und Sekundärvorgang beschrieben – belegen. Sie entsprechen

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