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anderer Hinsicht, als würden sie sich künftig oder gerade jetzt, in der Gegenwart, ereignen: Sie scheinen jeden Moment bevorzustehen oder tauchen als Flashbacks auf, werden aber nie als Teil der Vergangenheit, mithin als Erinnerung im eigentlichen Sinn, erlebt. Fernando prägte den Begriff „Zero-Prozess“ für diese Form des psychischen Funktionierens, das sich seiner Ansicht sowohl vom Primär- als auch vom Sekundärvorgang unterscheidet. Zum Beispiel weist die „Zeitlosigkeit“ des Zero- Prozesses im Vergleich zu den in unaufhörlicher Bewegung begriffenen, sich aber nie auflösenden Inhalten des Primärvorgangs eine außerordentlich starre Aktiv-inaktiv- Qualität auf. Wenn Richard Kluft (1993) die Dissoziative Identitätsstörung (DIS) als eine „Multiple-Realität-Störung“ bezeichnet, beschreibt er eine Situation, in der dieser Zero-Prozess das klinische Bild beherrscht. Die Inhalte des Zero-Prozesses wurden noch nicht in reguläre Erinnerungen transformiert, sondern bleiben als ständige Gegenwart erhalten. Diese Überlegungen können das Verständnis nicht nur der Dissoziativen Identitätsstörung erleichtern, sondern Licht auf viele weitere Aspekte des Traumas werfen. Die Wucht der intergenerationellen Transmission beispielsweise wirkt weniger mysteriös, wenn wir begreifen, dass der traumatisierte Mensch in mehreren Realitäten lebt und die Nachkommen auf der emotionalen und unbewussten Ebene lediglich darauf reagieren. Was transmittiert wird, sind nicht Erinnerungen, sonderen Realitäten. Auf der klinischen Ebene leuchten bestimmte technische Innovationen ein. Wenn z.B. eine traumatisierte Patientin sagt, sich könne noch immer nicht glauben, dass das Trauma tatsächlich passiert sei, kann ihre Analytikerin erläutern, dass es daran liegen könne, dass „ihr Trauma noch nicht geschehen“ sei. Es lebt noch in ihrer Zukunft und wartet darauf, zu geschehen. Die Analytikerin hat die Aufgabe, rücksichtsvoll dabei zu helfen, dass diese furchtbare Zukunft eintritt und sodann Teil der Vergangenheit werden kann. III Bg. Interdisziplinäre Studien: Beispiel für Ich-Psychologie & Kunst und Kreativität & Neurowissenschaften Im heutigen freudianischen Diskurs (nicht nur Nordamerikas) erkennt man weithin an, dass die interdisziplinären Verbindungen und Anwendungen und die wechselseitige Befruchtung zwischen der Psychoanalyse und anderen Forschungsgebieten produktive Analogien und neue Hypothesen ermöglichen können, sofern die Unterschiede zwischen den Gebieten und ihren jeweiligen Methoden anerkannt und nicht verwischt werden. Freuds eigene Theoriebildung folgte dieser Methode. Im Interesse seiner theoretischen Fortschritte rekurrierte Freud auf andere Disziplinen, etwa auf die biologischen Wissenschaften, die Anthropologie, die Sprachwissenschaften, die Archäologie, auf Kunst und Literatur usw. und stützte sich auf ihre analoge Verbindung, ohne ihre Unterschiede zu verkennen. Beispielhaft genannt für die zahlreichen Analytiker, die Freud folgen, seien hier Erikson, Hartmann, Kris und Bellak mit ihren Studien über die komplexe Rolle, die Regression, Zerstörung, Grenzverletzungen und Konflikt für die Hervorbringung von
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