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Identifizierung: „Ohne die Grenzen, innerhalb deren Normalität liegt, zu definieren, gehe ich davon aus, dass es ein normales Maß an projektiver Identifizierung gibt und dass dies in Verbindung mit introjektiven Identifizierungsvorgängen die Grundlage darstellt, auf der die normale Entwicklung beruht“ (Bion 2013 [1919], S. 116). Dieser gutartige Zyklus aus projektiven und introjektiven Identifizierungen kann gestört werden, z.B. durch die Unfähigkeit der Mutter, die projektiven Identifizierungen des Säuglings anzunehmen und zu verstehen, oder aber durch eine Frustrationsintoleranz des Kindes oder seinen Neid. In beiden Fällen sind verzweifelte, „exzessive“ projektive Identifizierungen des Kindes die Folge (siehe auch den Eintrag CONTAINMENT: CONTAINER-CONTAINED). Seither wird das Konzept vorwiegend zur Beschreibung eines spezifischen klinischen Vorgangs interpersonalen Charakters benutzt: Der Patient stößt Teile seines Selbst aus, projiziert sie in den Analytiker und veranlasst ihn auf diese Weise, sich am Projektionsprozess zu beteiligen. Ebendieser Aspekt – dass der Analytiker teilhat und seine eigene Subjektivität einbringt – rückt in den Vordergrund, mit anderen Worten: Während das Konzept der projektiven Identifizierung anfangs als ein „Eine-Person“-Bezugsrahmen verstanden wurde, näherte seine Bedeutung sich im Laufe der Zeit immer mehr einem „Zwei- Personen“-Bezugsrahmen an. Dies ist der Grund, weshalb das Konzept auch außerhalb des kleinianischen Milieus, aus dem es hervorging, so erfolgreich wurde. Dem post-kleinianischen Verständnis der projektiven Identifizierung kommt das 1976 von Joseph Sandler formulierte Konzept der Rollenresponsivität sehr nahe. Sandler war ein hochangesehener Vertreter der Anna-Freudianischen Tradition (Malberg & Raphael-Leff 2012), der die Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Verhalten des Analytikers lenkte, das man „als einen Kompromiss zwischen seinen eigenen Tendenzen oder Neigungen und der Rollenbeziehung ansehen kann, die der Patient unbewusst herzustellen versucht“ (Sandler 1976, S. 47). Nicht nur die Bedeutungserweiterung, die das Gegenübertragungskonzept und die projektive Identifizierung erfuhren, trug zur relationalen Wende in der europäischen Psychoanalyse ein. Wichtig war auch der Einfluss der nordamerikanischen relationalen Psychoanalyse. Aus der Kombination von Elementen der Ich-Psychologie, der Selbstpsychologie und des Interpersonalismus gingen Denkschulen hervor, die ihrem Wesen nach relational waren und als „Konstruktivismus“, „Intersubjektivismus“, „postmoderne Perspektive“ u.a.m. bezeichnet wurden. An der Schnittstelle dieser konzeptuellen und klinischen relationalen Fäden stand das Konzept des Enactment (siehe den Eintrag ENACTMENT), das auf beiden Seiten des Atlantik, in den USA ebenso wie in Europa, Verbreitung fand (Bohleber et al. 2013 [2013]).
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