Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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und Werk. Nach einer längeren Phase der Arbeitshemmung, in der er die von ihm geschaffenen Figuren zwanghaft immer weiter reduziert und verkleinert und viele der Arbeiten am Ende zerstört hatte, fühlte sich der in der Schweiz geborene Bildhauer 1946 „plötzlich“ frei, normalgroße Figuren zu schaffen und seine neuen, „filiformen“ – fadenförmigen – stehenden Frauen und ausschreitenden Männern zu präsentieren. Als kleiner Junge hatte Giacometti beobachtet, wie seine ambivalent geliebte Mutter nach Monaten aus einem komatösen Zustand – sie wäre beinahe an Typhusfieber gestorben – ins Leben zurückfand. Sie war bis aufs Skelett abgemagert, ihr Haar war weiß geworden. Die nicht-assimilierte traumatische Kindheitserfahrung des Künstlers wurde 1946 reaktiviert, als er nach Paris zurückkehrte und in seiner Nachbarschaft KZ- Überlebenden begegnete. Der Künstler konnte das neue Trauma, den Ablick von Menschen, die das Typhusfieber dem Tode nahegebracht hatte, bewusst wahrnehmen und sich von der zwanghaften Abwehr seiner eigenen Aggression befreien, die ihn seit Vorkriegsjahren gelähmt hatte. Giacometti erkannte den Unterschied zwischen dem realen Sadismus der Nazis und seinen eigenen feindseligen Wünschen und Phantasien. Der Vergleich zwischen dem erinnerten, erschreckenden Anblick seiner halbtoten Mutter, der sich seinem Gedächtnis 36 Jahre zuvor eingeprägt hatte, und dem realen Anblick der halbtoten Menschen im Paris der Nachkriegszeit unterstützte die Assimilierung dieser früheren traumatischen Erinnerungen. Die nachträgliche Revision der feindseligen, gegen Familienmitglieder gerichteten Kindheitswünsche konnte nun in bildhauerische Ikonen des Überlebens transformiert werden.

IV. SCHLUSSBETRACHTUNG

Freuds frühe Beobachtung, dass bestimmte Erinnerungen eine größere traumatische Gewalt über das Erinnern ausüben als das ursprüngliche Ereignis in der Vergangenheit, veranlasste ihn zur Formulierung des hochkomplexen, nicht-linearen Konzepts der Nachträglichkeit. Die in diesem Eintrag vorgestellten Blickwinkel illustrieren die Evolution der Konzipierung des Traumas von einem desorganisierenden Geschehnis der infantilen Sexualität, das über eine lange Zeit stumm bleibt, um dann in einer späteren, zweiten Phase Ausdruck zu finden. Wenn die zweite Phase traumatisch wirkt, zeigt sich im Rückblick, dass der erste Zeitpunkt der Moment des eigentlichen traumatischen Ereignisses war. Die Geschichte des Konzepts an sich durchläuft einen ähnlichen zweiphasigen Prozess wie den, den es beschreibt. In Europa trug die französische Psychoanalyse an vorderster Front zur Wiederbelebung des Konzepts bei. Lacan prägte den Begriff „L’après-coup“, um zu betonen, dass die Wirkung der Nachträglichkeit nie endet und auf eine Nachwirkung drängt. L’après-coup gibt eine zeitliche Struktur zu erkennen, die einer höheren Ordnung angehört als eine bloße „Rückwirkung“; insbesondere wartet das „Nachher“ solange ab, bis das „Vorher“ den ihm gemäßen Platz erhalten hat. Zeitgenössische französische Analytiker haben die spiralförmig-zirkuläre Dynamik des Auftauchens-

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