Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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Triebabkömmlingen besetzt, die im Kontext der je verschiedenen Selbstrepräsentationen integriert werden. Was die Verwendung von „Trieb“ (drive) und „Instinkt“ (instinct“) betrifft, so gelangt Kernberg zu dem Schluss, dass Freud selbst „zweifellos ‚Trieb‘ bevorzugte und darunter relativ kontinuierliche Motivationssysteme an der Grenze zwischen Körperlichem und Psychischem verstand, ‚instincts‘ hingegen als diskontinuierliche, unflexible, angeborene Verhaltensdispositionen betrachtete“ (Kernberg 1982, S. 909). In der von Strachey herausgegebenen Standard Edition des Freud’schen Werkes aber wird „Trieb“ praktisch durchgängig mit „instinct“ übersetzt. Was die Entwicklung der für die Entwicklung des Selbst relevanten allerersten Selbst- und Objektrepräsentationen betrifft, so führt Kernberg Erkenntnisse aus der modernen Neurobiologie mit Studien über die Säuglingsentwickung in einer revidierten Formulierung der dualen Triebtheorie zusammen. Demnach bilden zahlreiche Affekte das primäre Motivationssystem, das zunehmend differenzierte und integrierte Selbst- und Objektrepräsentationen mit Affekten verbindet, die sich nach und nach zu libidinösen und aggressiven Trieben herausbilden. Diesem Modell gemäß sind Affekte die Bausteine oder konstitutiven Elemente der Triebe. In den folgenden 30 Jahren hat Kernberg seine integrative Arbeit fortgeführt, aktualisiert und weiterentwickelt. Kernberg (2015) betont die dynamische Komplexität der ersten Lebenswochen und –monate. Schon in der „symbiotischen Phase“ der „halluzinatorisch-illusorischen somato-psychischen“ Verschmelzung (Mahler et al. 1978 [1975], S. 63), die keine Grenzen zwischen dem Selbst und der Anderen kennt und in der das Baby und seine Mutter eine operative Einheit bilden, tauchen seiner Theorie zufolge nicht nur die wesentlichen primären Affekte auf, sondern auch ein Streben nach Differenzierung – die Voraussetzung für den Erwerb der Theorie des Geistes – und die ersten Spuren der Empathie (Gergely und Unoka 2011). Kernbergs Version der psychoanalytischen Objektbeziehungstheorie (Kernberg 1982, 2003, 2015) bringt die Entwicklungsebenen der psychischen Struktur mit der Organisation und Psychopathologie der Persönlichkeit in Verbindung. Beschrieben werden zwei basale Ebenen der Persönlichkeitsorganisation (borderline und neurotisch), denen zwei basale Entwicklungsniveaus entsprechen, die sich der ersten Ebene, auf der es keine Differenzierung gibt und Selbst- und Objektgrenzen ineinander verschwimmen (Psychose), anschließen. Kernberg knüpft an Jacobson und Mahler an, integriert Aspekte des kleinianischen Denkens und nimmt an, dass der präverbale Säugling/das Kleinkind unter dem Einwirkung dominierender, intensiver Affektzustände eine duale psychische Struktur aufbaut. Idealisierte Selbstrepräsentationen, die mit einem idealisierten Objekt verbunden und von positiven Affekten bestimmt sind, stehen negativen Selbst- und Objektrepräsentationen gegenüber, die von aggressiven, frustratrionsbedingten Affekten beherrscht werden. Unter diesen Umständen ist eine integrierte Selbst- und Objektwahrnehmung ausgeschlossen. Stattdessen werden Selbst und Objekt in idealisierte und/oder verfolgende Partialobjektrepräsentationen gespalten oder

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