Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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dissoziiert. Wenn die Mutter-Kind-Interaktionen im Zeichen eines aggressiven Affekts stehen, ist die für die Entwicklung der Ich-Identität notwendige Integration nicht möglich. Das Resultat ist eine Borderline-Persönlichkeitsstörung. Im speziellen Fall des Narzissmus wird eine „pathologische Selbststruktur“ (das „grandiose Selbst“), in der „reales Selbst“, „ideales Selbst“ und ideale Objektrepräsentationen enthalten sind, besetzt. Wenn hingegen die Entwicklungsbedingungen während der ersten drei Lebensjahre es zulassen, dass das Kind Ambivalenz und sowohl positive als auch negative Gefühle gegenüber ein und demselben äußeren Objekt zu tolerieren lernt, kann es ein integriertes Selbstgefühl („normales Selbst“, realistisches Selbstkonzept) und die Fähigkeit entwickeln, ein integriertes Bild von wichtigen Anderen aufzubauen. Der Erwerb der Selbst- und Objektkonstanz ermöglicht die Herausbildung der Ich-Identität. Durch diese innere Strukturbildung wird das Es eingehegt, so dass ein Ich entstehen kann, das Sublimierungsfunktionen erfüllt, die es erleichtrn, emotionale Bedürfnisse in Bezug auf Sexualität, Abhängigkeit, Autonomie und aggressive/assertive Selbstbehauptung auf adaptive Weise zu äußern. Internalisierte Objektbeziehungen, die ethische Gebote und Verbote enthalten und dem Kind in den frühen Interaktionen mit seiner psychosozialen Umwelt vermittelt werden, können ins Über-Ich integriert werden. Diese besser integrierte (neurotische, „normale“) Ebene der Persönlichkeitsorganisation lässt intrapsychische, intersystemische Konflikte zwischen allen drei Instanzen – Es, Ich und Über-Ich – zu. Der vorherrschende Abwehrmodus ist die Verdrängung. Kernbergs aktuelle integrative Weiterentwicklung der Objektbeziehungstheorie hat zahlreiche Implikationen für das Verständnis der frühen Entwicklung und der aus ihr resultierenden Pathologien des Selbst. Kernberg postuliert ein homöostatisches „Proto-Selbst“, das sich zu einem „Kernselbst“ entwickeln kann. Dieses kann sich in Raum und Zeit positionieren und umfasst als reiferes, kontinuierliches, stabiles Selbst das autobiographische Gedächtnis, Antizipation, ein „sprachliches Selbst“, ein „psychisches [mental] Selbst“ und ein „soziales Selbst“. In seinen Bemühungen, psychoanalytische Objektbeziehungstheorie und affektive Neurowissenschaften zu korrelieren, zeigt Kernberg (2015), dass die moderne neurowissenschaftliche Erforschung der Affektentwicklung (Gergely und Unoka 2011) mit ihren Untersuchungen verschiedener Hirnstrukturen, Schaltkreise und Neurotransmitter die psychoanalytische These einer allmählichen Internalisierung separater („guter“ und „böser“ Selbst-Objekt-)Repräsentationen bestätigt, deren vollständige Integration nur auf den höheren kortikalen Ebenen möglich ist. Heute unterscheidet Kernberg (2013, 2015) in seiner Theorie zwischen zwei Phasen des Mentalisierens, nämlich einer frühen Phase, in der sich ein auf eine unmittelbar präsente Objektbeziehung abhebendes Verständnis augenblicklicher Affektzustände entwickelt, und einer späteren Phase, die mit dem Hintergrund der Selbst- und Objekterfahrung zusammenhängt und die unmittelbare Gegenwart im Licht der (vom Selbst) reflektierten Vergangenheit kontextualisiert.

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