Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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GEGENÜBERTRAGUNG Tri-regionaler Eintrag Interregionales Editorial Board: Anna Ursula Dreher (Europa), Adrian Grinspon (Lateinamerika) und Adrienne Harris (Nordamerika) Interregionaler Koordinierender Co-Chair: Eva D. Papiasvili (Nordamerika)

I. EINLEITUNG UND EINLEITENDE DEFINITIONEN

Kaum ein psychoanalytisches Konzept hat so viele und signifikante Veränderungen erfahren wie das der Gegenübertragung, und kaum eines hat so verändernd gewirkt. Deshalb kann ihm nur eine historische, theoretische, empirische und erfahrungsbezogene Darstellung gerecht werden. Heute bezeichnet der Begriff eine ganze Bandbreite (bewusster und unbewusster) Gefühle, Gedanken und Einstellungen des Analytikers gegenüber dem Patienten in der analytischen Sitzung. Im breitesten Sinn deckt „Gegenübertragung“ die Gesamtheit der Gefühle, Einstellungen und Gedanken ab, die ein Therapeut in Bezug auf Patienten oder ihnen gegenüber entwickeln kann. Im engsten Sinn steht der Begriff für sehr spezifische, vorwiegend unbewusste Reaktionen auf die Übertragung der Patienten. Das Konzept zählt zu den schwierigsten der Psychoanalyse; es durchlief hochkomplizierte Entwicklungen und definiert innerhalb des breiten Spektrums moderner internationaler Orientierungen zahlreiche Bedeutungen. Allgemein anerkannt wird, dass die Gegenübertragungserfahrung potentielle Vorteile hat, aber auch Gefahren mit sich bringt. Als notwendiger Bestandteil der Übertragungs-Gegenübertragungsmatrix spiegelt das Konzept eine vitale, wenngleich unterschiedlich definierte interaktive Dimension der Psychoanalyse wider. Auf der Grundlage einer Auswertung moderner europäischer und nordamerikanischer psychoanalytischer Wörterbücher (Auchincloss 2012; Skelton 2006) können wir das Gegenübertragungserleben als klinisches Phänomen, das aus zahlreichen Quellen in der psychoanalytischen Situation hervorgeht und durch verschiedene Prozesse und Mechanismen im Patienten und im Analytiker sowie zwischen ihnen beiden vermittelt wird, phänomenologisch wie folgt beschreiben: * Ein bewusstes Gefühl oder eine bewusste Vorstellung des Analytikers in Reaktion auf das Material des Patienten. * Ein unbewusstes Gefühl oder eine Assoziation , deren der Analytiker durch disziplinierte Selbstanalyse in der Sitzung oder danach innewerden oder die er (re- )konstruieren kann. Es kann sich um eine Reaktion des Analytikers auf die Übertragung des Patienten handeln, um eine Übertragung des Analytikers selbst, um ein Element

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