Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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Mijolla (2005) beschreibt die “freie Assoziation” und ihre Funktion in der psychoanalytischen Behandlung als “Grundregel”, indem er sowohl auf Freuds deterministisches Konzept der Verbindung psychischer Phänomene (S. 615) rekurriert als auch betont, dass die Grundregel vom Patienten verlangt, die Gedanken, die ihm durch den Kopf gehen, unzensiert und ungefiltert auszusprechen. Insgesamt gesehen kann man die europäischen Definitionen der freien Assoziation wie folgt zusammenfassen: 1) Zugang zu freien, (relativ) unzensierten Gedanken; 2) Verbalisierung oder Mitteilung dieser Gedanken; und 3) die Erkenntnis, dass die Richtung dieser Gedanken Gegenstand des unbewussten Determinismus psychischer Phänomene ist. Wenngleich die freie Assoziation in sämtlichen regionalen modernen psychoanalytischen Wörterbüchern Lateinamerikas als separater Eintrag fehlt, zeigt die psychoanalytische Erforschung ihrer klinischen Anwendung durch Laverde und Bayona (2012) ganz ähnlich wie in Nordamerika unterschiedliche Instruktionen auf, die nicht nur Gedanken, sondern auch die im Laufe der Sitzung auftauchenden Gefühle betreffen sowie jedwede Schwierigkeit, die es dem Patienten bereiten mag, sie in Worte zu fassen. Dementsprechend wird ausdrücklich anerkannt, dass alles wichtig ist – von Inhalten, die als peinlich empfunden werden, bis zu winzigen Details. Manche Theoretiker betonen, dass es wichtig sei, Träume mitsamt den sie begleitenden Emotionen mitzuteilen. Dass die Grundregel ursprünglich die Funktion hatte, schmerz- bzw. unlustvolle, verdrängte Erinnerungen zu aktivieren, bedeutet, dass sie Abwehrmechanismen und Widerstände auf den Plan rufen kann, die dem Prozess, unbewusste Inhalte „freizusetzen“, zuwiderlaufen. Laverdes und Bayonas Untersuchung gelangte daher zu dem Ergebnis, dass bestimmte Formulierungen der Grundregel einem Über-Ich-Gebot gleichkommen, das den Widerspruchsgeist des Patienten weckt. In zahlreichen Schriften hebt Freud hervor, dass die freie Asooziation nie einen rein assoziativen Akt darstellen oder wirklich vollständig „frei“ sein kann. Auf allen Kontinenten stimmen die meisten Forscher heute darin überein, dass eine strenge Befolgung der Grundregel der freien Assoziation nicht durchführbar und unrealisierbar ist (Blackman 2023), weil der hochkomplexe analytische Prozess auf die Erforschung des Unbewussten durch das Bewusste zielt. Terminologie Seit den Anfängen des Konzepts verwendete Freuds die Begriffe „Assoziation“ und/oder „Einfall“. In seinen Vorlesungen an der Clark University in den USA benutzte Freud (1910a) den Begriff „freier Einfall“ statt „Assoziation“. Er unterstreicht den nicht-linearen Charakter des aus „Anspielungen“ bestehenden Assoziationsprozesses, die durch Widerstände verzerrt werden. Freud zeigt eine Analogie zu dem Verhältnis zwischen dem manifesten Trauminhalte und den latenten Traumgedanken auf. In

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