Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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Stoltenhoff 1926; Fenichel 1927, 1933; Hann-Kende 1936). Autoren, die diese enge Perspektive vertraten, versahen den englischen Begriff häufig mit einem Bindestrich – „counter-transference“ –, um die unbewusste (Übertragungs-)Reaktion des Analytikers auf die Übertragung des Patienten hervorzuheben. Eine interessante Spezifizierung wurde von Helene Deutsch (1926) entwickelt. Sie formulierte die Annahme einer Gegenübertragung als „ komplementäre Position “ – eine Überlegung, die später von Heinrich Racker auf originäre Weise ausgearbeitet wurde. Wenn man das Schicksal dieser engen Definition betrachtet, erkennt man, dass sie in den Schriften der Bannerträger der freudianischen Technik überdauerte, zum Beispiel bei Annie Reich (1951), aber auch, wenngleich unter etwas anderer Perspektive, bei Jacques Lacan (1966/1977). Während Reich die „counter- transference“ als eine übertragungsbedingte Behinderung der psychoanalytischen Empathie des Analytikers hervorhebt, betrachtet Lacan (1966/1977) die Gegenübertragung ausschließlich als eine Ansammlung der Fehler, Missverständnisse, Neurosen und Lücken im Gesamtfunktionieren des Analytikers – sie ist für die Deutungsarbeit nutzlos. Zu diesem Fazit gelangt Lacan trotz seiner konzeptuellen Neuformulierungen und Erweiterungen des Einflusses, den das Wissen und die „Macht“ des Analytikers in der asymmetrischen Analytiker-Patient-Beziehung ausüben. Das lacanianische Verständnis der Gegenübertragung als Notwendigkeit, die Vorgängigkeit des Begehrens des Analytikers vor dem des Patienten zu berücksichtigen, um die gesamte intersubjektive Dynamik der Situation zu verstehen – ein Verständnis, das Widerhall findet in Lacans berühmter Aussage, „Widerstand“ in der Analyse sei in erster Linie der Widerstand des Analytikers –, kommt auch heute noch zum Tragen, vor allem in der französischen intersubjektiven Orientierung in Europa und Nordamerika (Furlong 2014). Indes finden sich bei Freud auch Bemerkungen, die auf die Auffassung der Gegenübertragung als therapeutisches Instrument, mit dessen Hilfe der Analytiker etwas vom Unbewussten des Patienten erblicken oder spüren kann, vorauszudeuten scheinen. So schrieb er, der Analytiker solle „dem gebenden Unbewussten des Kranken sein eigenes Unbewusstes als empfangendes Organ zuwenden, sich auf den Analysierten einstellen wie der Receiver des Telephons zum Teller eingestellt ist. Wie der Receiver die von Schallwellen angeregten elektrischen Schwankungen der Leitung wieder in Schallwellen verwandelt, so ist das Unbewusste des Arztes befähigt, aus den ihm mitgeteilten Abkömmlingen des Unbewussten dieses Unbewusste, welches die Einfälle des Kranken determiniert hat, wiederherzustellen“ (Freud 1912, S. 381f.). Und als er seine Sichtweise der unbewussten Prozesse ausarbeitete, widmete Freud (1915) nicht nur der unbewussten Dynamik des Patienten, sondern ausdrücklich auch jener des Analytikers in der analytischen Situation besondere Aufmerksamkeit. Er ließ keinen Zweifel daran, dass die bewussten und unbewussten psychischen Prozesse des Patienten und des Analytikers innigst miteinander verflochten sind. Annie Reich betonte 1951 einen spezifischen Aspekt dieses Umstands: Der Patient kann für den Analytiker „ein Objekt der Vergangenheit repräsentieren, auf das Gefühle und

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