Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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ausgehen, um einen verdrängten Komplex zu suchen, so haben wir alle Aussicht, diesen zu erraten, wenn uns der Kranke eine genügende Anzahl seiner freien Einfälle zur Verfügung stellt. Wir lassen also den Kranken reden, was er will, und halten an der Voraussetzung fest, daß ihm nichts anderes einfallen kann, als was in indirekter Weise von dem gesuchten Komplex abhängt.” (S. 30) In „Zur Vorgeschichte der analytischen Technik“ erwähnt Freud (1920b) u.a. J.J. Garth Wilkinsons „neue Methode“ der „Impression“ als Vorläufer der freien Assoziation : „Diese Technik entsprach nach Wilkinsons Ansicht einem aufs höchste gesteigerten Sich-gehen-lassen, einer Aufforderung an die tiefstliegenden unbewußten Regungen, sich zur Äußerung zu bringen. Wille und Überlegung mahnte er, sind beiseite zu lassen” (S. 310). Wilkonson nutzte diese Methode allerdings zu literarischen und nicht zu klinischen Zwecken. Darüber hinaus zitiert Freud (1920b) auch Ludwig Börne und dessen 1823 verfassten kurzen Aufsatz „Über die Kunst, in drei Tagen ein Originalschriftsteller zu werden“. Freud hatte diesen Text im Alter von 14 Jahren gelesen. Er enthält das Wort „Zensur“ und schließt mit folgender Nutzanwendung: „‘Nehmt einige Bogen Papier und schreibt drei Tage hintereinander, ohne Falsch und Heuchelei, alles nieder, was euch durch den Kopf geht. Schreibt, was ihr denkt von euch selbst, von euren Weibern, von dem Türkenkrieg, von Goethe, von Fonks Kriminalprozeß, vom jüngsten Gericht, von euren Vorgesetzten — und nach Verlauf der drei Tage werdet ihr vor Verwunderung, was ihr für neue unerhörte Gedanken gehabt, ganz außer euch kommen. Das ist die Kunst, in drei Tagen ein Originalschriftsteller zu werden!‘“ (S. 311f.) Ferenczi, so schreibt Freud, hatte ihn auf Börnes Aufsatz hingewiesen, an dessen Lektüre er sich zunächst gar nicht erinnerte. Erst beim neuerlichen Lesen fiel ihm ein, dass er ihn schon als 14-Jähriger kennengelernt hatte. Er schreibt über sich selbst in der dritten Person und tut kund: „Er erzählte, daß er Börnes Werke im vierzehnten Jahr zum Geschenk bekommen habe und dieses Buch heute, fünfzig Jahre später, noch immer als das einzige aus seiner Jugendzeit besitze. Dieser Schriftsteller sei der erste gewesen, in dessen Schriften er sich vertieft habe. […] Er war besonders erstaunt, in der Anweisung zum Originalschriftsteller einige Gedanken ausgesprochen zu finden, die er selbst immer gehegt und vertreten habe” (S. 312). Wiederholt kam Freud (1900a, 1925d) auch auf den Dichter und Philosophen Friedrich Schiller zu sprechen, der Theodor Körner, dem über mangelnde dichterische Produktivität klagenden Freund, im Jahre 1788 ein “Zurückziehen der Wache von den Toren des Verstandes” (Freud 1900a, S. 108) empfahl – auch dies ein für die Entwicklung der freien Assoziation relevanter Einfluss.

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