Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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Balints Überlegungen zur “passive Objektliebe” und zur primären Liebe (Balint 1988 [1935]), die er ausgehend von Freud und Ferenczi entwickelte, stehen dem amae - Konzept theoretisch am nächsten. Balint weist darauf hin, dass die indo-europäischen Sprachen nicht eindeutig zwischen den zwei Formen der Objektliebe, d.h. der aktiven und der passiven, unterscheiden (ebd., S. 66). Während das Ziel immer in erster Linie eines passives ist (geliebt zu werden), wird sich das Kind doch, sofern seine Bezugspersonen es hinreichend lieben, anerkennen und seine Frustrationen mildern, zu einer aktiveren Haltung weiterentwickeln und “Liebe schenken”, um selbst Liebe zu empfangen (Konfiguration der “aktiven Objektliebe”). Klinisch formuliert, besteht eine Verbindung zwischen primitiver amae und Balints Begriff der “gutartigen Regression” sowie zwischen pathologisch komplizierter amae und der von ihm beschriebenen “malignen Regression”. Obwohl Fairbairn (1952) die Abhängigkeit in der frühen Entwicklung generell anerkannte, verzichtet sein objektbeziehungstheoretisches System auf das Konzept der Abhängigkeitsbedürfnisse. Kleins Theorien des Neides ( higami = Minderwertigkeitskomplex, Gelbsucht) und der projektiven Identifizierung (Klein 2000 [1957]) entsprechen einer verzerrten amae . Viele japanische Analytiker sind der Ansicht, Bion (1961) habe Dois amae- Konzept im Kontext der Gruppendynamik vorhergesehen, als er die These formulierte, dass in jedem der emotionalen Zustände, die mit den drei Gruppengrundannahmen – Abhängigkeit, Kampf-Flucht und Paarbildung - zusammenhängen, ein Gefühl der Sicherheit existiere. Auch sein “Container-Contained”-Konzept und Winnicotts “Holding” sowie Hartmanns “Passung” und Sterns “Interaffektivität” weisen grundlegende Ähnlichkeit mit der amae- Psychologie auf, wiewohl sie die prä-adaptierte Abhängigkeit des Säuglings von der Mutter, die für die intersubjektive Übertragungs-Gegenübertragungsmatrix im psychoanalytischen Prozess klinisch relevant ist, von unterschiedlicher Warte aus betrachten.

V. WEITERE PSYCHOANALYTISCHE ENTWICKLUNGSPSYCHOLOGISCHE PERSPEKTIVEN

Unter einem dynamischen entwicklungspsychologischen Blickwinkel ist hervorzuheben, dass Doi (1971) nicht die Mutterbeziehung des Neugeborenen als Ursprung von amae betrachtet, sondern die Mutterbeziehung des Kleinkindes, das sich seiner getrennten Existenz bereits bewusst ist und in der Mutter die unverzichtbare Befriedigungsquelle erkennt. Diese Konzeptualisierung legt die Vermutung nahe, dass amae in einer Entwicklungsphase auftaucht, in der sich das Ich schon differenziert und Kognition, Urteilsfähigkeit und Identifizierung erworben hat. Auch die Objektkonstanz ist bereits entwickelt. Die von Mahler et al. (1975) beschriebene symbiotische

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