Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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Kris (1955), David Rapaport (1951, 1958) und Erik H. Erikson (1950) untersuchten die allgemeineren Ich-Funktionen, und ihre Arbeit begründete schließlich die Ich- Psychologie. Hartmann (1950) führte auch das Konzept eines dem Ich inhärenten „intrasystemischen Konflikts“ ein. Die Schriften dieser Autoren zeugen von der Vorstellung eines Gleichgewichts zwischen sämtlichen Kräften, die aus der menschlichen Psyche hervorgehen und auf sie einwirken. Daher sollte die Haltung des Analytikers in seinem Bündnis mit dem Ich des Patienten die gleiche Distanz zu allen drei psychischen Instanzen und zur Außenwelt wahren. (Siehe auch den Eintrag KONFLIKT.) Zahlreiche nordamerikanische Ich-Psychologen, die in den 1940er und 1950er Jahren schrieben, führten das Unbewusste auf eine undifferenzierte Matrix zurück, die das Potenzial für die künftige Entwicklung des Ichs und seiner Funktionen enthält. Einige dieser Funktionen, nämlich die von Hartmann (1939/1958; Hartmann, Kris und Loewenstein 1946) so genannten primären autonomen Ich-Funktionen, bleiben von den Auswirkungen des Konflikts unberührt, während andere nach Konfliktauflösung lediglich „sekundär autonom“ werden. In diesem Prozess werden alle Aspekte durch Beziehungen vermittelt, da Identifizierungen den wesentlichen Ich-Funktionen zugrunde liegen. Die postfreudianische Strukturtheorie ergänzte die dynamischen, Struktur- und ökonomischen Theorien der freudianischen Metapsychologie nach und nach um Erwägungen der Genetik, der Entwicklungspsychologie und der Anpassung. (Siehe den Eintrag DAS UNBEWUSSTE.) Eine wichtige Modifizierung erfuhr das theoretische Verständnis der freien Assoziationen durch eine hilfreiche Anwendung der Freud’schen Strukturtheorie auf die psychoanalytische Technik. So schreibt etwa Rudolph Loewenstein (1963): „Dass der Patient sagt, was ihm einfällt, ist für die Analyse genauso wichtig wie die Beobachtung, was ihn daran hindert. Der Analytiker widmet dem Es, dem Ich und dem Über-Ich jeweils die gleiche Aufmerksamkeit, darüber hinaus aber soll der Patient seine auftauchenden Gedanken sowie sein Widerstreben, sie wahrzunehmen oder auszusprechen, beobachten und in Worte fassen“ (S. 454). Im Anschluss an Anna Freuds (1987 [1936]) Systematisierung der Abwehrmechanismen und Robert Waelders (1936) Ausarbeitung des Freud’schen Prinzips der Überdeterminierung zu einem „Prinzip der mehrfachen Funktion“ wuchs das Bewusstsein für das Unterlaufen des freien Assoziierens und den „Gebrauch“ des Analytikers und der Analyse zu Abwehrzwecken (Blum 1996). Nachdem die Rolle, die die psychoanalytische Methode für das Ich vorsieht, durch den von Freud (1940 [1938]) beschriebenen analytischen „Vertrag“ zwischen dem geschwächten Ich des Patienten, das „vollste Aufrichtigkeit“ verspricht, und dem Analytiker, der „strengste Diskretion“ (S. 98) zusichert, definiert worden war, hat man der Ich-Stärke bzw. -Schwäche keine spezielle Aufmerksamkeit mehr gewidmet. Heinz Hartmanns Unterscheidung zwischen defensiven und autonomen Ich-Funktionen

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