dogs

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Erziehung

4. 2022

F ür unsere Hunde ist uns nichts zu teuer. Wir füt- tern sie mit dem Feinsten. Sie haben die besten Tierärzte. Sie werden gepflegt, gehätschelt, be- schmust. Und besuchen selbstverständlich eine Hunde- schule, die auf Motivation statt Gewalt setzt. Spätestens dort lernen wir, dass unser Hund arbeiten will, dass Nichtstun Gift für ihn ist und zu Verhaltensproblemen führt. Kein Problem, körperliche Fitness liegt ohnehin voll im Trend – nicht nur für Menschen, sondern auch Hunde. Dem Zeitgeist entsprechend boomen die tempe- ramentvollen, schnellen und ausdauernden Rassen: Wei- maraner, Border Collie, Australian Shepherd. Und die geretteten Tierschutzhunde, die jahrelang auf der Straße lebten, oft ängstlich, schreckhaft und traumatisiert sind. Manche von ihnen zeigen das Kaspar-Hauser-Syndrom, waren viel zu lange keinen oder zu wenig Reizen ausge- setzt und sind entsprechend überfordert mit ihrem neu- en Leben. Auch sie brauchen Bewegung und müssen beschäftigt werden, damit sie sich nicht selbst „Arbeit“ suchen und zu nervigen Begleitern werden. Das gilt auch für die Minis wie Chihuahua, Zwergpudel und Pa- pillon, deren überbordende Energie sich sonst ebenfalls anderweitig ein Ventil sucht. Also bauen wir den Vierbeiner ins eigene Fit- nessprogramm ein. Er joggt täglich die große Runde mit, läuft eine halbe Stunde neben dem Fahrrad, rennt unermüdlich dem Ball hinterher und fordert zum Wie- derholen auf. Der Gedanke dahinter ist schlüssig: Wer so viel leistet, der kommt nicht auf dumme Ideen. Der buddelt keine fiesen Löcher ins Blumenbeet, grummelt die Nachbarn nicht an und jagt nicht hinter anderen Radfahrern, Joggern oder gar flüchtigem Wild hinterher. Das hat er nicht nötig, schließlich ist er ausgelastet. Und wenn es doch nicht reicht, weil er zu den ganz Wilden, den Workaholics gehört, setzen wir noch einen drauf – mit Mantrailing, Treibball, Agility, Obedience. Flächen- deckend bieten Hundeschulen unzählige Sportarten an, die auf die Hundebedürfnisse abgestimmt sind. Das Training auf den Hundeplätzen deckt auch die soziale Komponente ab: Dort haben die Hunde Kontakt zu Art- genossen und können sich untereinander austauschen. Genauso wie ihre Menschen. Ein Win-win-Situation, so geht artgerechte Hundehaltung. Wirklich? Warum aber haben dann Personal Trainer für Problemhunde so starken Zulauf? Wieso ist die Zahl der Hunde, die trotz eines täglichen ausgetüftelten Bewegungsprogramms ADHS-Symptome zeigen, Unarten entwickeln und ein- fach nicht zur Ruhe kommen wollen, deutlich gestie- gen? Scheinbar läuft etwas schief. Nur was?

Leider gibt es darauf keine eindeutige Antwort. Nur jede Menge Thesen, die alle auf das gleiche Mantra hin- auslaufen: Mehr Balance im Hundeleben. Wie dieses Gleichgewicht zwischen Spannung und Entspannung aussieht, ist von Hund zu Hund verschieden. Es gilt her- auszufinden, ob das Tier unter- oder überfordert ist. In beiden Fällen ist Dauerstress die Folge, der sich irgend- wann entladen muss. Und dieser Stress ist oft gar nicht so leicht zu erkennen – gerade wenn man der Meinung ist, seinem Hund ausreichend Programm zu bieten. Einige Anzeichen für Über- oder Unterforderung sind (ausgenommen sind alte und sehr kranke Hunde) Lust- losigkeit, wenn die Gassirunde ansteht, der tief gestellte, aufgeringelte oder hängende Schwanz nach der Auffor- derung zu einer Übung oder totales Abschalten, wenn es gilt, sich zu konzentrieren. Aber auch Hecheln bei nor- malen Außentemperaturen, unruhiges Hin- und Herlau- fen in der Wohnung, ständiges Bedrängen des Men- schen, fehlende Impulskontrolle, Übererregbarkeit und Übersprunghandlungen bis hin zum Jagen des eigenen Schwanzes. Und eben auch die oft beklagten „Unarten“ wie Dauergebell gegenüber Artgenossen oder Men- schen, das Ignorieren vom Rückruf, Zerren an der Lei- ne. .. Die Frage bleibt: Sind solche Hunde über- oder unterfordert? Und wie können wir ein Gleichgewicht schaffen zwischen Action und Ruhe? Dazu hilft ein Blick in die Hundehistorie. Alle Hunde sind Laufjäger – sie stammen vom Wolf ab, von dem sie einen Großteil ihrer Gene geerbt haben. Ein Wolf läuft in 24 Stunden 50 Kilometer, manchmal auch mehr. Nicht weil er will, sondern weil er muss. Viel- leicht ist für ihn kein Platz mehr in der Familie und er sucht nach einem Partner. Vielleicht gibt es im engen Territorium nicht genug Nahrung, um die Familie satt zu bekommen. Doch Wölfe, die mit ihrer Familie einen festen Wohnsitz haben und auf ein üppiges Nahrungs- angebot zurückgreifen können, verbringen die meiste Zeit im Bau. Die Mitglieder putzen sich gegenseitig, su- chen den engen Körperkontakt, dösen, schlummern, verdauen und schlafen. Bis der Hunger sie nach draußen treibt. Oder ein Rivale die Eintracht stört und die Grup- pe sich auf eine Auseinandersetzung vorbereiten muss. Ganz ähnlich verhalten sich Straßen- und verwilderte Hunde. Ihre einzigen Aufgaben sind die Verteidigung des Reviers und die Suche nach Futter. Die verbleiben- den Stunden des Tages dienen dem Zusammenhalt durch gegenseitige Körperpflege und Nähe. Ein Rückfall in ihre Urzeit, denn genetisch sind sie keine reinen Wölfe mehr. Genauso wenig wie unsere Haushunde. Der

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