01-2016 D

Fortschritt oder Rückschritt- was sind die GRÜNDE ? Während einige Länder von Fort- schritt und Wirtschaftswachstum geprägt sind, herrscht in anderen Armut und Rückschritt. Doch wa- rum ist das so? Die Gründe sind komplex und vielfältig – und teil- weise überraschend. Aufklärung vs. Kolonialismus

Europas und Amerikas übergegriffen. In den katholischen Gesellschaften wurden derweil Tugenden wie Schick- salsergebenheit und Gehorsam der Führung gegenüber gefördert – so hatte sich bis zum Ende des 19. Jahr- hunderts eine Kluft in der Entwicklung protestantischer und katholischer Ge- sellschaften aufgetan. Mit der Säkula- risierung hat sich dieser Unterschied weitgehend ausgeglichen, Spuren da- von sind aber in den wirtschaftlichen Problemen der Eurozone bis heute ersichtlich. Harmonie als wirtschaftliches ERFOLGSREZEPT? Was bedeutet Webers These für Ost- asien? Welches kulturell-religiöse Ele- ment entspricht in diesem Kontext dem Calvinismus? In den Tigerstaaten sowie in China ist hinsichtlich Religion ein Konglomerat von Animismus, Tao- ismus, Konfuzianismus und Buddhis- mus zu finden; in allen vieren steht Harmonie im Zentrum. Es ist schwer vorstellbar, dass das Suchen von Har- monie wirtschaftliche Entwicklung fördert. Aber die konfuzianische Lehre der Beziehungen hat die Selbstdis- ziplin und das Zurückstellen der Ei- geninteressen tief in die Seele seiner Anhänger eingeprägt. Der Konfuzia- nismus kann daher als Erfolgsrezept dieser Staaten gesehen werden. In der wirtschaftlichen Entwicklung von Japan und China spielt noch ein anderer Aspekt eine wichtige Rolle: Beide Länder wurden von den west- lichen Mächten gedemütigt – Japan im zweiten Weltkrieg durch die USA, China im Boxerkrieg anfangs 20. Jahr- hundert durch die westlichen Kolo- nialmächte. Ziel beider Länder war es danach, die wirtschaftliche (und militärische) Macht der USA zu über- treffen, um die Demütigung wieder gutzumachen. Mit dieser Motivation haben sich beide enorm entwickelt.

Warum aber sind Sri Lanka und die afrikanischen Staaten zurückgefal- len? Für Sri Lanka war der dreissig- jährige Bürgerkrieg zwischen Sin- ghalesen und Tamilen ein Grund – enorme finanzielle Mittel flossen ins Militär und der Tourismus wurde behindert. Zusätzlich bremsen die harmoniezentrierten Religionen Sri Lankas die Entwicklung. Der afrikanische Kontinent soll ge- gen Ende des Mittelalters, im 15. Jahrhundert, etwa gleich weit ent- wickelt gewesen sein wie der euro- päische. In Europa folgten Renais- sance, Reformation und Aufklärung; Bewegungen, welche an der Wurzel der industriellen Revolution liegen. In Afrika hingegen folgten Sklaven- handel, Kolonialismus und Neoko- lonialismus, welche die afrikanische Kultur und den afrikanischen Selbst- wert grossenteils zerstörten. Da- rüber hinaus ist die Harmonie- und Beziehungszentrierung der afrika- nischen traditionellen Religionen nicht entwicklungsfördernd: Vet- ternwirtschaft und Korruption sind an der Tagesordnung und erfolgrei- che Verwandte werden ausgesogen oder verhext. In der Realität sind die Verhältnisse natürlich viel komplexer. Diese Ver- einfachungen deuten aber an, wo die Gründe für die Fort- und Rück- schritte liegen – und fördern das Verständnis für die Geschehnisse und Denkweisen in den jeweiligen Ländern und Staaten.

1959 versprach der Singapurer Lee Kuan Yew seinen Landsleuten im Rahmen seiner Wahlkampagne, dass er als Premierminister den Entwick- lungsstand des damals fortschrittli- chen Sri Lankas aufholen würde. Lee wurde gewählt und realisierte in den 60er-Jahren ein Wirtschaftswunder: Das Entwicklungsland Singapur wur- de neben Taiwan, Hongkong und Südkorea einer der vier asiatischen „Tigerstaaten“, die sich durch ein enormes Wirtschaftswachstum im 20. Jahrhundert auszeichneten. Unter- dessen hat Singapur mit seinem sehr hohen Lebensstandard, dem saubers- ten Flughafen der Welt und einem der modernsten ETH-Forschungszentren auch europäische Staaten überholt. Wie gelang Singapur und anderen Staaten der Übergang vom Entwick- lungsland zum Industriestaat – und warum sind andere wie Sri Lanka und Afrika so weit zurückgefallen? In seinem Buch „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ (1904) hat der Religionssoziologe Max Weber über die Wirtschaftsethik der Weltreligionen und die Gründe für wirtschaftlichen Erfolg bzw. Miss- erfolg nachgedacht. Er kommt zum Schluss, dass Calvins Aufforderung zur Selbstdisziplin und harten Arbeit die Grundlage zur wirtschaftlichen Entwicklung gelegt hat. Die industri- elle Revolution hat im anglikanisch- calvinistischen England angefangen und auf die protestantischen Länder Calvin als WURZEL der Industrialisierung

Dr. Hannes WIHER, Verantwortlicher für die Förderung der Mis- siologie in der Franko- phonie

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