Geschichte
P rovisorien, oder positiver ausge- drückt, „Übergangslösungen“ die- nen dazu, einen angestrebten End- zustand schneller herbeizuführen. So geschah es auch in Stuttgart, als ab 1962 der Bau von unterirdischen Tunnelanlagen startete. Eine zügige Nutzung der einzel- nen, fertiggestellten U-Streckenabschnit- te konnte mit vorläufigen Tunnelrampen realisiert werden, die den Anschluss an das vorhandene oberirdische Schienennetz der Stuttgarter Straßenbahnen AG (SSB) ermöglichten. Ab in den Untergrund Wie in vielen Großstädten hemmte auch in Stuttgart der zunehmende Individual- verkehr den flüssigen Ablauf des Straßen- bahnbetriebs. Die städtebaulichen Voraus- setzungen waren der rapide wachsenden Verkehrsflut nicht mehr gewachsen. Eine Abhilfe dieses Problems bestand im Schaf- fen neuer, breiter Verkehrsschneisen, nach Möglichkeit mit eigenem Bahnkörper für die Straßenbahn, oder in der Verlagerung des Bahnbetriebs in den Untergrund. Das Verkehrsgutachten von Walther Lambert und Max-Erich Feuchtinger favorisier- te für die Stuttgarter Innenstadt Tunnel- lösungen und der Gemeinderat folgte die- ser Empfehlung. Von der U-Bahn-Euphorie getrieben gru - ben Bagger und Bohrgeräte ab 1962 in der Innenstadt am Charlottenplatz den ersten Tunnel für das Untergrundsystem. Doch bis zur Vollendung des gesamten unter- irdischen Netzwerkes wussten Planer, Bau- leute und die SSB als Betreiberin, dass es eine lange Durststrecke zu überbrücken galt. Diese sollte für den Innenstadtbereich bis 1983 dauern. Die erstellten Tunnelbau- werke einem Dornröschenschlaf zu über- lassen, kam für die Verantwortlichen von SSB und Stadt nicht in Frage. Zu groß war der verkehrspolitische Druck, das stau- geplagte Straßennetz zu entlasten. Stra- tegisch betrachtet wollte man auch die baustellengenervten Stuttgarter mit dem aufwendigen Tunnelbauvorhaben versöh- nen und dem ausgegebenen Geld einen sichtbaren Nutzen verleihen. Als modu- lare Inbetriebnahme kann das Vorgehen der Straßenbahner bezeichnet werden, je- den einzelnen Tunnelabschnitt sofort nach Fertigstellung in das oberirdische Netz zu integrieren. Ermöglicht haben dies zeitlich befristete Rampen. Diese für eine Interimszeit konzipierten Provisorien wirkten in ihrer überwiegend sehr soliden Bauausführung nicht wie eine Übergangskonstruktion. Die sichere Be- triebsführung und städtebauliche Aspek- te lieferten die Argumente, hier nicht mit einer Sparlösung zu operieren. Außerdem waren die Tunnelbauer somit auch für
die Eventualität gerüstet, falls es bei den Anschlussbauwerken zu Verzögerungen kommen sollte. In der über sechzigjähri- gen Tunnelbaugeschichte, für welche sich die SSB und das Tiefbauamt der Stadt Stuttgart verantwortlich zeichnen, wurden zwischen 1966 und 1987 neun Rampen er- stellt, die nach erfolgtem Tunnelanschluss wieder überflüssig wurden. Rampe Holzstraße Nach vier Jahren Bauzeit konnte im Mai 1966 die Eröffnung des ersten Tunnelab- schnitts (erster Streckenabschnitt) unter der Konrad-Adenauer-Straße mit der Hal- testelle Charlottenplatz auf Ebene -2 gefei- ert werden. Eine Inbetriebnahme war nur mit den ersten beiden Rampenprovisorien möglich. Die eine Rampe entstand an der Holzstraße, direkt beim Stuttgarter Tradi- tionskaufhaus Breuninger. Am Ende der
Rampe existierte eine verschwenkte Gleis- lage, um fast rechtwinklig zunächst in die Marktstraße und nach wenigen Metern sogleich mit einer weiteren scharfen Kurve in die Eberhardstraße zu gelangen. Nach Fertigstellung der Tunnelröhre vom Mari- enplatz zur U-Haltestelle Rathaus (zweiter Streckenabschnitt) musste die Rampe im September 1971 dem Anschluss der unter- irdischen Strecken weichen. Rampe Staatstheater Das Gegenstück zur Holzstraße bildete am anderen Tunnelende an der tristen Hinter- front des Theaterkulissengebäudes gelegen, eingebettet zwischen Fahrbahnen der Bun- desstraße 14 vor der Kreuzung Schiller-/Ne- ckarstraße, die Rampe Staatstheater. Erfreu- en konnten sich die Fahrgäste der Linie 4 und 21 hingegen am Anblick der sehenswer- ten Staatsgalerie. Dies änderte sich im Mai
Vergangenheit und Zukunft treffen an der Rampe Holzstraße aufeinander: Anlässlich des 100. Jubiläums der Stuttgarter Straßenbahnen drehte im Juli 1968 der historische Trieb- wagen 222 (Baujahr 1904) zwischen Berg und der Innenstadt seine gut besuchten Runden und durfte dabei auch Tunnelluft „schnuppern“ VERKEHRSFREUNDE STUTTGART (2)
Vom einstigen Bahnbetrieb ist im September 1971 bald nichts mehr zu sehen: Der arbeits- losen Rampe Holzstraße wurde die Tunnelöffnung bereits verschlossen. Im Gegensatz zur U-Straßenbahn existieren die Tunnelrampen der Bundesstraße 14 noch heute
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STRASSENBAHN MAGAZIN 9 | 2025
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