Bahn Extra

wieder in Betrieb gehen konnte. Die Dampf- bahnen der SEG waren nämlich bereits 1919 in das Eigentum der Stadt Mainz über- gegangen und wurden bis 1923 auf elektri- schen Betrieb umgestellt. Deshalb hatte das RVA Mainz-Land ei- gentlich eigene Betriebsmittel beschaffen sollen, doch das klappte nicht wie geplant. Vom 7. Februar 1922 an besorgten zwei von der SEG aus Darmstadt angemietete Dampf- loks den Verkehr. Im Herbst 1922 dann gab das RVA bei DWK zwei vierachsige Benzol- triebwagen in Auftrag, eben jene einleitend erwähnten „Spitzmäuse“ mit den Fabrik- nummern 27 und 29. Diese waren zwar bis zum Frühjahr 1923 fertig gestellt und für die DWK-Werbeabteilung mit kompletter Be- schriftung „Deutsches Reich 1“ bzw. „Deut- sches Reich 2“ fotografiert worden, doch bis die beiden Triebwagen von Kiel nach Mainz überführt werden konnten, verstrich noch ein geschlagenes Jahr. Streit um die Benzoltriebwagen Reichsvermögensamt und Straßenbahnamt kamen nämlich auf keinen gemeinsamen Nenner. Nachdem die Forderung des Straßen- bahnamtes, statt der beiden Benzoltrieb­ wagen zwei Elloks zu beschaffen und die Anschlussstrecke nach Wackernheim zu elektrifizieren, wegen des bereits erteilten Auftrags in Kiel nicht mehr durchsetzbar war, zog das Straßenbahnamt die Tauglichkeit der Benzoltriebwagen in Zweifel. Mal ging es um die Form der Radreifen, dann um die ungenü- gende Motorleistung, schließlich um die un- zulängliche Bremseinrichtung – und immer wieder wurden in Kiel neue Zeichnungen oder Nachweise angefordert und Umbauten gewünscht oder sogar vorgenommen.

Leichtbau geht anders. Die DWK-Triebwagen der 1920er-Jahre waren – anders als die zeitgleich entstandenen Benzoltriebwagen der AEG, die viele Elemente aus dem Kraftfahrzeugbau übernom- men hatten – ausgesprochene Schwergewichte. Das in weiten Teilen genietete Untergestell des Triebwagens 2 trägt auffallend viele Beschriftungen Gebr. Gastell/Slg. Dr. Löttgers

Bis Ende April 1924 waren die beiden „Spitzmäuse“ dann auch mit einer Körting- Vakuumbremse ausgestattet worden, um mit den von der SEG angekauften Dampf- bahn-Personenwagen zusammenlaufen zu können. Damit konnten die beiden mit ei- nem 100 PS starken Sechszylinder-Verga- sermotor ausgestatteten Triebwagen am 8. Mai 1924 endlich von Kiel aus Richtung Mainz zum Versand gebracht werden. Die Anschrift „Deutsches Reich“ hatte man in Kiel auf Wunsch des Bestellers vorher noch übermalt. Die französischen Besatzer hät- ten sie wohl auch kaum akzeptiert.

Vier Tage später trafen die Triebwagen bei der Waggonfabrik Gebr. Gastell in Mainz-Mombach ein, wo sie in den folgen- den Tagen montiert und fahrbereit gemacht wurden. Wagenkästen und Untergestelle mussten nämlich für die Überführung ge- trennt verladen werden, da die bis Oberkan- te Dachkühler rund 3,80 Meter hohenTrieb- wagen das Lademaß sonst deutlich überschritten hätten. Noch vor Monatsende wurden sie nach Finthen überführt, wo mehrere Tage lang Probefahrten Richtung Wackernheim stattfanden. Nachdem dann die Reichsbahndirektion Köln nach einigem Hin und Her über die Zuständigkeit die Triebwagen 1 und 2 der reichseigenen An- schlussbahn abgenommen hatte, konnten diese endlich die Dampfzüge ablösen.

Übersichtszeichnung der für Finthen-Wa- ckernheim gelieferten „Spitzmäuse“. Die am Maschinenrahmen des Untergestells angeschriebenen „60 Pers.“ dürften viele Stehplätze einschließen Jörn Müller

Kartenausschnitt aus dem Koch/Opitz-Stre- ckenatlas von 1925, ergänzt durch den ungefähren Verlauf der Armierungsbahn Finthen – Wackernheim in Mainz Slg. Dr. Löttgers

„Deutsches Reich“, Wagen 1 und 2, aus dem DWK-Katalog von 1924 Slg. Dr. Löttgers

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BAHN EXTRA 4/2022

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