03-2014 D

WENN DAS NEUE SCHOCKT

Als sogenannten „Kulturschock“ be- zeichnet man die emotionalen He- rausforderungen beim Einleben in eine fremde Kultur. Normalerweise durchläuft man dabei verschiedene Phasen, die unterschiedliche Gefühle auslösen. Je nach Phase sind es Faszination, Ver- wirrung, Verunsicherung, Frustration oder gar eine Identitätskrise. Nach der Zeit des Einlebens folgt die Anpassung. Man findet sich in der anderen Kultur zurecht und fühlt sich mehr und mehr wohl in der neuen Heimat. Nun kann man unterschiedlich auf die fremde Umgebung reagieren. Entweder, man versucht durch nachfragen, beobach- ten und zuhören, die Gastkultur zu ver- stehen, Beziehungen aufzubauen und Verständnis zu entwickeln. Oder man zieht sich zurück und kritisiert alles, was man sieht und erlebt, was zunehmend zur Isolation führt und die Phase des Ein- lebens verlängert. Natürlich spielt auch die persönliche Tagesform eine Rolle, wie gut es einem gelingt, sich auf die unbekannte Umwelt einzulassen. Die- ser Prozess kann etwa ein bis zwei Jahre dauern. Mitten im Getümmel Wir erleben solche Stresssituationen beispielsweise dann, wenn wir uns in das Marktgetümmel stürzen müssen, um Lebensmittel oder andere Waren zu

kaufen. Im Markt ist es eng, oft eher dunkel und die Menschenmas- sen schlängeln sich durch die schmalen Gässchen. Aufgrund unserer Hautfarbe fällt schnell auf, dass wir Europäer sind, und da hier das all- gemeine Bild vom Westen stark mit Reichtum verknüpft ist, möchte uns jeder Händler möglichst seine Ware verkaufen. Als Neulinge sind wir oft in der Ungewissheit, ob der genannte Preis in etwa dem orts- üblichen Durchschnitt entspricht oder ob wir gerade über den Tisch gezogen werden. In solchen Situationen erinnern wir uns manchmal sehnsüchtig an die ordentlichen Regale mit den angeschriebenen Preisen in der vergleichsweise ruhigen Migros. Wenn wir mit unserer zweijährigen Céline auf den Markt gehen, werden wir oft von Män- nern angesprochen, die unsere Tochter heiraten möchten. Da ist man zu Beginn schon mal sprachlos und ein Gefühl der Überforderung und Ratlosigkeit kommt in einem hoch. Das Rezept heisst Gelassenheit Dank verschiedener Kurse, mit denen wir uns vor unserer Ausreise auf interkulturelle Begegnungen vorbereitet haben, waren wir uns bewusst (zumindest theoretisch), dass Stresssituationen auf uns zu- kommen werden. Und genau dieses Wissen hat uns nun schon oft sehr geholfen. Wir können uns eher „entspannen“, imWissen, dass die durchlebten Gefühle, ob positiv oder negativ, ganz normal sind und zum Einleben dazugehören. Sehr hilfreich sind Menschen aus dem ei- genen Kulturkreis, da sie uns sehr gut verstehen und uns beim Fussfas- sen unterstützen können. Im Fall Markt versuchen wir, die Begegnungen für unser Sprachstudi- um zu nutzen oder die kulturellen Aspekte zu beobachten. Wir lassen uns auch bewusst auf das Abenteuer Markt ein, indem wir genügend Zeit und Energie dafür einplanen und ändern unsere Einstellung, in- dem wir versuchen, das Positive zu sehen und uns nicht nur auf das Stressige zu fokussieren. Dadurch gewinnen wir meist die nötige Ge- lassenheit, unser Fremdsein mit Humor zu nehmen und mit den Händ- lern zu scherzen.

Michelle und Tobias VÖGELI sind Mitarbeitende im ActionVIVRE Gaoual in Guinea/Westafrika.

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