03-2014 D

Der fremde FREMDE -

der willkommene GAST

Jemand klatscht vor meiner Haustüre in die Hände. Ich gehe hin, um zu sehen, was der Be- sucher möchte. „Hallo! Ich bin dein Fremder!“ Als Neuankömmling im Tschad schwirren mir bei dieser Begrüssung verschiedene Gedan- ken durch den Kopf. SeinemTon nach zu urtei- len möchte er, dass ich ihm nicht bloss ein Glas Wasser anbiete, sondern ihn beherberge. Aber ich bin doch die Fremde?! Ein paar Tage später beim gemeinsamen Essen mit Einheimischen reicht mir jemand den Hühner- magen mit den Worten: „Das ist für die Fremde!“ Dieses Zeichen der Ehrerbietung lässt man dem Gast oder der ältesten Person am Tisch zukom- men. „Aha!“, denke ich, „hier heisst das Wort Frem- der gleichzeitig auch Gast .“ Damit bin ich nicht nur eine fremde Fremde, sondern gleichzeitig ein will- kommener Gast. Seit diesen ersten Erlebnissen sind nun ein paar Jahre vergangen. Mittlerweile habe ich schon viele Mägen gegessen und ich fühle mich wohl mit meinen tschadischen Freunden. Nach wie vor lerne ich Neues über ihre Kultur. Das eigene Denken reflektieren Wenn etwas anders gemacht wird, als wir aus dem Westen es gewohnt sind, ist manchmal herausfor- dernd, die andere Art nicht zu verurteilen. Rasch vergisst man, das eigene Denken und die Motive zu reflektieren. Zum Beispiel ist für uns Schwei- zerinnen und Schweizer die Pünktlichkeit etwas sehr Wichtiges. Ich plane entsprechend Zeit ein, um zum Treffen zu gelangen. Auf dem Weg grüs- se ich die Leute nur ganz kurz, um mich nicht zu verspäten. Wenn ich dann ankomme, ärgere ich mich, wenn ich eine halbe Stunde warten muss, bevor die Sitzung beginnt. Ich habe zwei Optionen: Entweder marschiere ich das nächste Mal bewusst später von zu Hau- se los, damit ich nicht unnötig Zeit verliere, oder aber gehe noch früher los, um mit den Leuten unterwegs oder während dem Warten plaudern

zu können. Was ist wichtiger, die Zeit oder die Be- ziehungen? Ich muss gestehen, dass ich mich hin und wieder immer noch nerve, wenn ich warten muss. Aber gleichzeitig sind diese Momente für meine Arbeit sehr wichtig, denn ein grosser Teil der Fortschritte passierte aufgrund von Gesprä- chen in solchen„Leerzeiten“. Unterschiede werden zum Reichtum Im Zuhören und Beobachten habe ich sehr viel lernen können. Ein tschadischer Pastor hat mir im Bezug auf ausländische Mitarbeitende einmal gesagt: „Ich wäre froh, wenn sie mehr zuschau- en und beobachten würden, als so viele Fragen zu stellen.“ Vor der Ausreise bereitet man sich in der Regel auf die neue Kultur vor, indem man übt zu beobachten, zu reflektieren und versucht, die Dinge aus einem anderen Augenwinkel zu be- trachten. Vor Ort versucht man dann in die Kultur einzutauchen, in der Hoffnung, sich anpassen zu können. Jedoch ist man nicht immer gleich bereit, sich an- ders und fremd zu fühlen, das Lachen der Men- schen zu ertragen, weil sie von unserer Anders- artigkeit überrascht sind, oder zu merken, dass Überlegungen ins Leere laufen. Dies kann ein starkes Gefühl von Einsamkeit auslösen. Aufgrund meiner Behinderung musste ich von Kindesbei- nen an lernen, mit dem Anderssein umzugehen und es zu akzeptieren. Das kammir hier imTschad zugute. Um in einer anderen Kultur gut leben zu können, ist es wichtig zu wissen, wer man ist, dass man kei- ne Angst vor dem Anderssein hat, dass man ver- sucht, sich ins Gegenüber hineinzuversetzen und sich von den neuen Lebenskonzepten bereichern lässt. In den aufrichtigen freundschaftlichen Be- ziehungen werden die Unterschiede so schliess- lich zum Reichtum.

Marie-Christine PROD’HOM ist Mitarbeiterin im Tschad.

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