04-2018 D

...ganz persönlich: Andere Kulturen, andere Sitten

Stabübergabe damit es weitergeht

Seit knapp einem Jahr arbeite ich jetzt im ProRIBEIRINHO in Brasilien. Ich bin die einzi- ge Gringa (so nennt man die Ausländer hier) imTeam – und gerate immer wieder in Situati- onen, die mich überraschen. Hier wird grundsätzlich davon ausgegangen: Was dein ist, ist auch mein. So könnte ich jeden Sonntag neue Farbstifte in den Kinderclub mit- bringen, denn die alten verschwinden regel- mässig. Und wenn ich nicht mit Adleraugen auf meine Sachen aufpassen würde, so würden auch mein Radiergummi, Papier und Spitzer in Besitz der Kollektivgesellschaft übergehen. Für die Kin- der hat dies nichts mit Stehlen zu tun – wenn ei- ner etwas hat, gehört das einfach allen. So komme ich dann auch in Verlegenheit, wenn ich irgendwo zu Besuch bin und eine grosse Schüssel Açaí-Fruchtpüree mit ein paar Löffeln auf den Tisch gestellt wird. Während sich alle fröhlich die Löffel und das Açaí teilen, kann ich nur beten, dass die Bakterien, die jetzt gerade ausgetauscht werden, mir nichts anhaben. Gibt es etwas zu essen, gehört es allen – inklusive Besteck. Inzwischen kann ich schon freundlich lächelnd und ohne das Gesicht zu verziehen mit- essen. … aber es funktioniert Eine weitere Herausforderung ist die Kommuni- kation. In Schamkulturen wird nicht offen kom- muniziert, sodass immer mal wieder Kreativität gefragt ist, um herauszufinden, was die Leute wirklich gesagt respektive gemeint haben. Kürzlich organisierten wir einen Event. Im Vorn- herein diskutierten wir ausgiebig, was wir ma- chen wollten und wer wofür verantwortlich sein könnte. Entschieden wurde aber nichts. Mit ge- mischten Gefühlen bereitete ich mich auf alle Eventualitäten vor, denn niemand konnte mir so genau sagen, wer sich nun worum kümmerte und was meine Aufgabe war. Erstaunlicherweise hat das Ganze dann doch ganz gut geklappt. An- scheinend hat in demganzen Chaos jeder irgend- wie seinen Job gefunden und dank einer grossen Portion Spontanität von allen Seiten merkte nur die Gringa, dass kaum jemand das gemacht hat, wofür er ursprünglich mal vorgesehen war. An- dere Kulturen – andere Sitten. Aber es funktio- niert. Einfach anders, als ich es gewohnt bin.

Damaris LIECHTI, ProRIBEIRINHO, Brasilien

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