Clausewitz

„Lebende Dolchstoßlegende“

AFRIKAKORPS-BUNDESTREFFEN: Paul von Lettow-Vorbeck (Mitte) mit Generalfeldmarschall a. D. Albert Kesselring (sitzend, links) und Lucie Rommel in Düsseldorf, September 1956 Foto:picture-alliance/dpa|FritzFischer

sich der alte General vor den Karren der NS-Propaganda spannen lässt und zahlrei- che Straßen und Kasernen nach ihm be- nannt werden. Als nach den Verbrechen des Zweiten Weltkriegs der Bedarf an ehrenhaf- ten und fähigen militärischen Helden groß ist, steht der ehemalige Kolonialsoldat pa- rat. Erst nach seinem Tod im Jahr 1964 setzt mehr und mehr eine recht kritische Aufar- beitung seines Lebenslaufs ein, die viele Mythen widerlegt. Mythos Lettow-Vorbeck Was bleibt von Paul von Lettow-Vorbeck und seinem Wirken? „Als zutiefst konserva- tiver, von der Berechtigung europäischer Ko- lonialherrschaft und der Minderwertigkeit der Afrikaner durchdrungener Offizier machte er keine Anstalten, die Bewohner der Entente-Kolonien gegen ihre weißen Herren aufzustacheln“, betont sein Biograf Eckard Michels. Er blieb „ein auf die rein militäri- schen Aspekte des Krieges fokussierter, de- tailversessener und improvisationsfreudiger Führer.“ Militärisch fähig, im Kleinkrieg ge- wandt, willensstark und unerschrocken, kümmerte ihn das Schicksal der afrikani- schen Bevölkerung jedoch wenig. Knapp 60 Jahre nach seinem Tod er- scheint Lettow-Vorbecks Wirken in einem vollkommen anderen Licht – der Glanz des einst von vielen Menschen verehrten „Hel- den“ von Deutsch-Ostafrika ist beinahe gänzlich verblasst. Dr. Lukas Grawe, Jahrgang 1985, Historiker am SOCIUM Forschungszentrum der Universität Bremen.

glimpflich davon. Dabei zehrt er von seiner Popularität und dem Mythos, den seine Per- son schon jetzt umgibt. In der Zwischen- kriegszeit symbolisiert er vielen konservati- ven Kräften, dass ein Sieg im Weltkrieg durchaus möglich gewesen wäre, wenn alle seinem Beispiel gefolgt wären. Da der mittlerweile zum General avan- cierte Offizier vermeintlich auch bei seinen

beck kühn und irrational: Statt sich zu erge- ben, fällt seine Schutztruppe in Portugiesisch- Ostafrika (heute Mosambik) ein und setzt dort mit 2.000 verbliebenen Soldaten den Kampf fort. Beständig vom Gegner verfolgt, durchquert Lettow-Vorbeck mit seinen Män- nern bis September 1918 in einem 2.600 Kilo- meter langen Marsch die feindliche Kolonie, um am 1. November in Nord-Rhodesien

„Hinter uns lassen wir zerstörte Felder, restlos geplünderte Magazine und für die nächste Zeit Hungersnot. Wir sind keine Schrittmacher der Kultur mehr.“ Tagebucheintrag des Schutztruppen-Arztes Ludwig Deppe (1873–1945), September 1918

Askaris populär ist, scheint Lettow-Vorbeck zudem die „saubere“ Seite der deutschen Kolonialherrschaft zu verkörpern. Dabei hatten diese ihm schon frühzeitig den we- nig ruhmvollen Beinamen „Herr, der unser Leichentuch schneidert“ verpasst. Die Wirkmacht der positiven Lettow-Vorbeck- Mythen überdauert auch die NS-Zeit, in der Literaturtipps Eckard Michels: Der Held von Deutsch-Ostafri- ka. Paul von Lettow-Vorbeck. Ein preußischer Kolonialoffizier, Paderborn 2008.

(heute Sambia) einzufallen. Von den Nach- richten aus Europa abgeschnitten, erfahren Lettow-Vorbeck und die Schutztruppe zwei Wochen später vom Waffenstillstand in Com- piègne. Erst jetzt strecken sie die Waffen. Als „lebende Dolchstoßlegende“ (Histo- riker Uwe Schulte-Varendorff) kehrt Lettow- Vorbeck Anfang 1919 nach Deutschland zu- rück und ist geschockt: 1914 hat er den Bo- den einer Weltmacht verlassen, nun – nach vier Jahren Krieg – findet er eine verarmte und zutiefst gespaltene Nation vor. Als kon- servativer Monarchist lehnt er die Demokra- tie als „undeutsch“ ab und hat keine Skrupel, an Versuchen zu ihrer Beseitigung mitzuwir- ken. Wegen seiner Beteiligung am Kapp- Lüttwitz-Putsch im März 1920 wird er aus der Reichswehr entlassen und in den Ruhe- stand versetzt, kommt aber ansonsten

Uwe Schulte-Varendorff: Kolonialheld für Kaiser und Führer. General Lettow-Vorbeck – Mythos und Wirklichkeit , Berlin 2006.

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Clausewitz 4/2022

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