Internationales Know-how für die Kinder- und Jugendhilfe

Internationale Kinder- und Jugendhilfe als Surplus

dies nicht, dass nationale Einflüsse und die Bedeutung des Nationalstaats bestritten wer- den. Es geht vielmehr darum, das Nationale nicht als die eigentliche, vorherrschende – quasi natürliche – Rahmung aller sozialen Prozesse zu begreifen, sondern die Verflechtungen von lokalen, nationalen und internationalen Alltags- welten in Kindheit und Jugend wahrzunehmen. Diese finden vor Ort statt und sind in jedem Jugendzentrum, in den Einrichtungen der Hilfen zur Erziehung, aber auch in jeder Kindertages- einrichtung und Schule zu beobachten. In der Forschung ist in diesem Zusammenhang vom ‚methodologischen Nationalismus‘ die Rede, den es zu bearbeiten gilt. Damit ist gemeint, dass das Nationale zum umfassenden Beschreibungs- und Erklärungsrahmen gemacht wird und es nicht in seiner politischen Bedeutung zu reflektieren.

Diese Beispiele können aber auch nicht verde - cken, dass die internationale zivilgesellschaftli- che Verständigung der jungen Menschen, die weltweite Stärkung der Kinder- und Jugendrech- te und der internationale Fachkräfteaustausch in der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland weiterhin oft als ein Extrafeld oder eine eigene zusätzliche Welt – als Surplus – neben der Nationalen angesehen wird. So hat sich zwar bspw. auf den großen Kinder- und Jugendhilfe- tagen der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe (AGJ) inzwischen auch ein eigenes sehr interessantes fachliches Europa-Programm etabliert, das weiter ausgebaut wurde. Doch noch immer wirkt die internationale und selbst europäische Öffnung der Fachöffentlichkeit wie ein zusätzliches Arbeitsfeld und nicht verzahnt und nur selten selbstverständlich verflochten mit den alltäglichen und politischen Diskussionen rund um die Kinder- und Jugendhilfe. Gerade gegenwärtig angesichts der Folgen der Covid-19-­ Pandemie und des Krieges gegen die Ukraine sollte darum umso intensiver daran gearbeitet werden, dass die transnationalen Verflechtun - gen und Verständigungen im Alltag junger Menschen und der Kinder- und Jugendhilfe jugendpolitisch in den Mittelpunkt gerückt werden.

Mobilität – Ein Rahmen um transnationale Verständigung auch unter Fachkräften zu beginnen und den methodologischen Nationalismus aufzubrechen

Internationale Begegnungen und Mobilität können entscheidend sein, um eine transnatio - nale Verständigung zu beginnen: Zu beobachten, wie in anderen Regionen regionale, nationale, europäische, weltweite Phänomene und Ent- wicklungen miteinander verflochten sind, wo Gemeinsamkeiten und Unterschiede sind, kann für junge Menschen und Fachkräfte eine sozial- öffnende Erfahrung sein. Wenn das Alltagsleben von Kindern und Jugendlichen heute transnatio- nal zu verstehen ist, dann sollten sich auch die Fachkräfte der Kinder und Jugendhilfe nicht einer Internationalisierung ihres Wissens ver- schließen. Sie haben selbst wahrzunehmen, wie die Erfahrungsräume der Kinder und Jugendli- chen gestaltet sind und wie sich darin auch unterschiedliche Verflechtungen, aber auch Nationalisierungen abbilden sowie Rassismen ausbilden können. Sie haben ihr eigenes Erfah - rungswissen entsprechend zu öffnen. In den Fachdiskussionen besteht insbesondere auch eine Tendenz zum methodologischen Nationalis-

Kindheit und Jugend ist heute nur transnational zu verstehen

Eine internationale und transnationale Verstän- digung erscheint auch darum von besonderer Bedeutung, da Kindheit und Jugend heute in sog. postmigrantischen Gesellschaften transnational verstanden werden muss. Die Alltagswelten von jungen Menschen sind nicht aus dem sozialen Zusammenleben im Bild eines nationalstaatli- chen Containers zu begreifen. Sie sind vielfältig verflochten mit unterschiedlichen regionalen, nationalen, europäischen und weltweiten Phänomenen und Entwicklungen. Wenn hier von „transnational“ gesprochen wird, dann bedeutet

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