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«WER BIN ICH UND WENN JA WIE VIELE?» Dieser Buchtitel des Philosophen Richard David Precht hat mich schon oft zum Nachdenken ge- bracht. Und gerade jetzt, wo ich mich in meinem Auslandeinsatz in Kambodscha wieder ganz neu- en Herausforderungen zu stellen habe, ist diese Frage für mich ak- tueller denn je. davon zu identifizieren. Nach einem halben Monat Einsamkeit in der Isola- tion teilte ich als Einstieg in die Wohn- gemeinschaft gleich das Bett mit einer jungen Kambodschanerin. Das verlieh zumindest der Identifizierung mit mei- ner Privatsphäre eine neue Wendung. Spätestens da fragte ich mich, wie viel von meiner Identität fix und wie viel davon flexibel ist und was Identität ei- gentlich ausmacht. zum Beispiel mein Bewegungsdrang (als langjährige Langstreckenläuferin), meine Haustierliebe, Essgewohnheiten, mein Single-Lebensstil, ein mehr oder weniger ausgeprägter Putzfimmel, die Liebe zu kühlen Temperaturen und das Bedürfnis nach einer verlässlichen Ta- gesroutine ohne Überraschungen.

Antworten und loslassen Und doch wird mir hier auch so vie- les zurückgegeben, was ich bei meinem letzten Einsatz an Identität gewonnen habe. Ich bin aufs Neue überwältigt von dem Respekt und der Liebe, die jedem Menschen entgegengebracht werden – einfach weil man da ist und ist, wie man ist. Auch staune ich wieder darüber, wie Beziehungen durch kleinste Gesten und einfachste Erlebnisse geknüpft werden. Das dadurch entstehende Band ist nicht von der Grösse der Ereignisse abhängig, sondern von der gemeinsamen Freu- de daran. Die enge Begleitung der Ler- nenden erfüllt mich ebenfalls sehr. Im Schweizer Schulalltag fühle ich mich oft unbefriedigt in meinemWunsch, jedem Kind einzeln zur Seite stehen zu kön- nen. Auch die Einfachheit der eingesetz- tenMittel fürs Lernen sowie das Finden kreativer Lösungen im Alltag anstelle der Beschaffung aller vermeintlich feh- lender Dinge entspricht meinemWesen sehr. Doch die Umstellung meines Fo- kus auf alles, was ich an Identität ge- winne im Gegensatz dazu, was zurück- gestellt werden muss, braucht Zeit und

Einige Bewohnerinnen des Carolyn English Centers mit Justine

Obwohl ich schon einmal für sechs Mo- nate in Kambodscha gelebt habe, muss ich mich auch dieses Mal erst wieder zurechtfinden: in meiner Identität zwi- schen den beidenWelten in mir und um mich herum. Bereits in der 14-tägigen Quarantäne musste ich eine komplett eigene Alltags-Welt aufbauen, die mir unerwarteterweise sogar sehr gefiel und während der ich innere Ruhe finden konnte. Aus dieser wurde ich jäh wie- der herausgerissen, als ich mein Hotel- zimmer nach 16 Tagen endlich verlas- sen durfte. Nun galt es nicht nur, mein Ich in der Aussenwelt wiederzufinden, sondern auch, meinen Platz in der acht- köpfigenWG des Carolyn English Cen- ters (Projektzweig von Lighthouse Bat- tambang) zu finden und mich als Teil

Offene Fragen Sich mit etwas zu identifizieren heisst ja, mit einer Situation persönlich überein- zustimmen und sich darin echt zu füh- len. Kann man das auch lernen und sich die Übereinstimmung mit einer Lebens- situation aneignen? Oder gibt es auch Begebenheiten, an die man sich inner- lich nicht anpassen und sich nie damit identifizieren kann? Irgendwie scheint das alles sehr subjektiv. Deshalb war ich zeitweise auch innerlich aufgewühlt und mir schossen viele Gedanken durch den Kopf und Gefühle durchs Herz. Es gibt einige Punkte, in denen mei- ne «alte» Identität vorerst stillgelegt werden muss. Darunter befinden sich

v.l.n.r. Justine, Living Leiterin Chreb und Trainee Pisey

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