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SAM FOCUS

01 | 2022

Berufung vs. Wurzeln Die Identität wahren S. 16

Verlorene Söhne Vom Vater geliebt S. 8-9 IDENTITÄT

Firmenidentität SAM global S. 4-5

EDITORIAL

INHALT 02 Editorial

Luisa Vonarburg Redaktionsverantwortung SAM focus

Luisa Vonarburg

03 Ganz persönlich Aimée Mandjila

Vor gut einem Jahr haben wir uns im SAM focus mit dem Thema «Heimat» beschäftigt. Wir sind auf eine Reise durch die verschiedenen Dimensionen gegangen, was Hei- mat alles sein kann und wo wir sie überall finden können. Doch wir können noch so viele Kilometer zurücklegen, die alte Heimat hinter uns lassen oder eine neue aufbauen – uns selbst nehmen wir immer mit. Mit unseren Erfah- rungen, Eindrücken und Errungenschaften. Für manche von uns mag dieser Gedanke aufregend und zufriedenstel- lend klingen. Für andere ist er eher herausfordernd und unbefriedigend. Was auch immer in uns ausgelöst wird, sie gehört zu uns allen – unsere Identität. Wer bist du? Was macht unsere Identität aus? Wurde sie durch die Um- welt geformt, in der wir uns befinden? Bestimmen Lebens- ereignisse, Gene, Entscheidungen, Menschen, wir selbst oder Gott unsere Identität? Um dem auf den Grund zu gehen, haben sich die Autoren/innen dieser SAM focus- Ausgabe mit genau diesen Fragen auseinandergesetzt. Ihre Antworten sind nicht abschliessend, sollen dir jedoch ei- nen Anstoss geben, dich weiter und wohlwollend mit dei- ner Identität auseinanderzusetzen und darüber nachzu- denken, wer du bist. Vom Verstehen und Entdecken Wie wir nun mit dieser Frage nach unserer Identität um- gehen, sieht ganz unterschiedlich aus. Ob wir sie jemals begreifen und fassen können, bleibt ebenfalls ungewiss. Aber was wir definitiv wissen ist, dass es wohl ein lebens- langer Prozess ist, dass wir uns damit beschäftigen, wer wir sind. Es geht wohl weniger ums Finden als ums Ver- stehen und Entdecken. Wenn du dich auf die Geschichten der Autoren/innen ein- lässt, möchte ich dich herausfordern, dass du dir folgende Fragen dabei stellst: Woher kommt deine Identität? Wer gibt dir deine Identität? Hat sie sich über die Jahre verän- dert bzw. entwickelt oder erneuert? Wer bist du und was würden andere darüber sagen?

04 Wer ist SAM global?! Jürg Pfister

06 Entscheidung mit Folgen? Ousmane D.

08 Die verlorenen Söhne Andrin Baumann

09 Schweizer auf dem Papier Joel R.

10 «. . . und am Ende führte uns Gott nach Guinea» Daniel Jakob

11 Zwischen zwei Welten Lukas B.

12 ausWIRkung

Deine Spende macht einen Unterschied

Luisa Vonarburg, Kommunikation

02

GANZ PERSÖNLICH

13 Spannungsfeld zwischen Kultur und Glaube Dr. Hannes Wiher

Während meines Einsatzes in Guinea wurde an so man- chemNachmittag oder Morgen an unser Tor geklopft und laut «Kong Kong» gerufen. Auf meine Frage, wer vor dem Tor sei, kam besonders von Kindern oft dieselbe Antwort: «Ich bin es!» Natürlich half mir diese Antwort nicht wirk- lich weiter, sie brachte mich höchstens zum Schmunzeln. «Wer ist ich?» – «Na ich!» Bei tieferem Nachdenken ist die Frage «Wer bist du?» gar nicht so leicht zu beantworten. Der Satz: «Ich bin…» kann auf so viele verschiedene Arten beendet werden. Ich bin Aimée, Studentin, ein Kind Gottes, aus dem Kanton Frei- burg, Teil einer Freikirche, in den Ferien, hungrig, Künstle- rin oder die Schwester von Jasmin. Ich bin so vieles gleich- zeitig, dass ich gar nicht weiss, wo ich anfangen soll. Und genauso ist man als Person unglaublich vielschichtig. Natürlich kann man mit oberflächlichen Dingen wie mit dem eigenen Namen antworten. was mir im Fall von un- bekannten Besuchern/innen am Tor schon gereicht hät- te. Doch die Identität eines Menschen geht weit tiefer als eine von den Eltern ausgewählte Anordnung von Buch- staben. Wer sagt uns, wer wir sind? Unser Pass, unsere Familie, unser Kontostand, unser Beruf, die Blicke ande- rer, unsere Handlungen, Gott? Können wir unsere Iden- tität frei auswählen und gestalten? Ich glaube, die erste und wichtigste Stimme, die uns sagt wer wir sind, ist die Stimme Gottes. Und die sagt ganz klar und deutlich, dass wir geliebt sind. Und weil Ge- liebtsein ein Zustand und keine Aktion ist, ist daran auch nicht zu rütteln. Neben diesem fixen, angeborenen Kern der menschli- chen Identität ist ein Teil wandelbar. Menschen werden geprägt von allem, was sie umgibt. Rhythmus bspw. lernt man und hat man nicht einfach, weil man z.B. in Afrika geboren wurde. Wir merken, wie Menschen auf uns re- agieren und passen uns an. So weiss ich aus Erfahrung, dass Menschen, die mich nach meiner Nationalität fra- gen, sich oft nicht damit zufriedengeben, wenn ich einfach sage, ich sei Schweizerin. Identität hängt eng mit unseren Mitmenschen zusammen. Mit wem identifizieren wir uns? Wer identifiziert sich mit uns?

14 Spieglein, Spieglein an der Wand… Sina Vögeli

16 Berufung vs. Wurzeln Sonja Pichler

17 «Wer bin ich

und wenn ja wie viele?» Justine G.

19 JOBS

Arbeiten bei SAM global

22 Finanzpuls

Peter Röthlisberger

Zum Titelbild dieser Ausgabe:

Dieses Foto wurde in einem Inlanddorf im Sertão in Bra- silien aufgenommen. Fran- cisco, ein Kleinbauer, war ei- ner der ersten Gläubigen, als Mitarbeitende von SAM glo- bal begannen, sein Dorf für Gottesdienste zu besuchen. Heute gibt es eine kleine Ge- meinde im Ort.

Aimée Mandjila, das ist mein Name und die passendste Antwort auf die Frage, wer ich bin.

«Geliebte unterwegs» ist die Bedeutung meines Namens.

Aimée Mandjila Ehemalige Kurzzeiterin ActionVIVRE Süd Guinea

Aus Sicherheitsgründen verzichten wir bei unseren Mitarbeitenden im Ausland auf den Nachnamen.

03

WER IST SAM GLOBAL?!

SAM global wurde als «Faith-Based Or- ganisation», das heisst auf der Basis des christlichen Glaubens im Jahr 1889 gegrün- det. Die ersten Einsatzländer waren Chi- na und Angola. Später kamen Japan – wo wir heute nicht mehr arbeiten – und Brasili- en dazu, dann Guinea und Sri Lanka. 2011 wurde «Vision Afrika» in SAM global inte- griert und damit drei neue Einsatzländer: Kamerun, Tschad und Burkina Faso. Da wir unser Engagement bewusst auch in Asien ausbauen wollten, entschieden wir uns zu- dem, in Nordindien, Nepal und Kambod- scha Fuss zu fassen. 133 Jahre – was macht SAM global aus, wenn wir diese Geschichte überblicken? Seit der Grün- dungszeit hat SAM global ganzheitlich gearbei- tet und war bestrebt, auf die verschiedenen Be- dürfnisse der Menschen einzugehen. So sind in Zusammenarbeit mit Partnern vor Ort Schulen, Ausbildungsstätten, Krankenhäuser, Kliniken und (Kirch-)Gemeinden entstanden. Das Bestre- ben nach Kooperation und Vernetzung hat SAM global schon immer ausgezeichnet und die res- pektvolle Zusammenarbeit mit Partnern vor Ort ist ein Markenzeichen. So war es beispielsweise nicht das Ziel, überall eine neue Denomination zu gründen, sondern die Zusammenarbeit mit einer oder mehreren Partnerkirchen zu suchen. Nicht umsonst hiess SAM global viele Jahre lang Schwei- zer Allianz Mission. SAM global geht dorthin, wo die Not auf ver- schiedenen Ebenen gross ist. So haben wir bei der Wahl der neuen Einsatzländer in Asien auf den Human Development Index geachtet und gleich- zeitig Gottes Führung gesucht. Immer wieder gilt es, sich zwar seiner Geschich- te bewusst zu sein, aber auch neu zu überlegen, was jetzt dran ist. Wer will, dass die Organisati- on SAM global bleibt, wie sie ist, will nicht, dass sie bleibt! Es braucht immer wieder Veränderung!

Menschen erleben Gottes uneingeschränkte Liebe, blühen auf durch angepasste Bildung und Praxis und investieren sich in andere. Unsere Vision Wir arbeiten auf diese Vision hin, weil wir überzeugt sind, dass Menschen, die Gottes Liebe erfahren, das gesellschaft- liche Zusammenleben positiv prägen. Ethnische und soziale Spannungen, Egoismus, Korruption – und damit Ungerech- tigkeit – nehmen ab. Wir investieren in angepasster Form in Bildung und Praxis auf allen Ebenen. Unser Ziel ist es, dass sich das Leben der Menschen derart verbessert, dass sie sich mit Hoffnung in ih- rem Land engagieren, statt es verlassen zu wollen. Unsere Mission S ERVE A ND M ULTIPLY (SAM): Wir dienen (serve) Menschen verschiedener Kulturen und Re- ligionen mit nachhaltiger und ganzheitlicher Entwicklungszu- sammenarbeit in den Bereichen Grund- und Berufsbildung, Gesundheit, theologische Bildung und Praxis und Verbesse- rung der Lebensgrundlagen in 11 Ländern. Unsere Mitarbeitenden investieren in Menschen, damit sie ihr volles Potential zur Entfaltung bringen und zwar so, dass sie das Gelernte auch anderen Menschen weitergeben kön- nen (multiply) .

Dabei leben unsere Mitarbeitenden ihnen die gute Nachricht von Jesus Christus glaubwürdig vor.

Zudem leistet SAM global Sensibilisierungsarbeit in der Schweiz und weiteren Ländern Europas und fördert die Ar- beit unter Migranten/innen.

04

Unser Fokus Geographische Fokussierung Wir fokussieren uns auf Länder mit grossen Bedürfnissen auf verschiedenen Ebenen. Wir leisten somit einen Beitrag zum Erreichen der nachhaltigen Entwicklungsziele der UNO. Schwerpunktregionen sind Südostasien und Westafrika inkl. Sahelzone. Zusätzlich sind wir in Brasilien und Angola tätig. Fokussierung auf unsere Stärken: Grundwerte: Die Schweiz hat christliche Wurzeln. Werte wie Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit sowie der Wunsch nach Gerech- tigkeit und eine hohe Arbeitsethik haben uns geprägt. Das sind Werte, deren Weitergabe sich lohnt. Bildung: Viele Schweizer/innen haben eine Top-Ausbildung. Wir investieren in Bildung auf verschiedensten Ebenen, zum Beispiel Schul- und Lehrer/innenausbildung, duale Berufsaus- bildung, theologische Ausbildung und Praxis sowie Ausbil- dung im Bereich Landwirtschaft und Social Business / B4T. Wir sind dankbar für Fachleute, die ihr Knowhow weiterge- ben und Einsätze leisten. Finanzen: Wir sind als Schweizer/innen, weltweit betrachtet, überdurchschnittlich privilegiert im Bereich der Finanzen und haben eine hohe Kaufkraft. Mit unseren Ressourcen, wenn sie nachhaltig investiert werden, können wir einen grossen Unterschied machen. Vernetzung: Wir wollen Wissen zugänglich machen, Syner- gien nutzen, Brücken über ethnische und politische Grenzen hinweg bauen und die Zusammenarbeit suchen.

Unsere Struktur SAM global ist als gemeinnütziger Verein organisiert und hat rund 150 Mitglieder. Neben unserem Hauptsitz in der Deutschschweiz gibt es Vertretungen in der Romandie, in Belgien und in Frankreich. Die Arbeit von SAM global wird grösstenteils von privaten Spendern/innen getragen. 10-15% des Budgets werden von öffentlichen Geldern für Entwick- lungszusammenarbeit (von der DEZA via Unité) finanziert. SAM glonal ist ZEWO-zertifiziert und darf das Gütesiegel «Ehrenkodex» führen. Alle Spenden sind in der Schweiz von den Steuern abziehbar. Wir sehen uns als Teil eines grösse- ren Ganzen, suchen Zusammenarbeit und Vernetzung und sind Mitglied bei verschiedenen Dachorganisationen und Netzwerken wie Unité, Interaction, SEA, SEA interkultu- rell, AEM usw..

Jürg Pfister Leiter SAM global

Unsere Werte

lebensverändernd Bildung, Training und Förderung der Menschen durch SAMglobal soll nicht nur «Kopfwissen» vermitteln, sondern auch Herzen berühren und Leben nachhal- tig verändern. Gemeinsam lassen wir uns inspirieren durch Jesus Christus und wollen wie er anderen Menschen dienen, Brücken bauen und Frieden stiften. wertschätzend Wir leben unter den Mitarbeitenden über kulturelle Grenzen hin- weg eine familiäre Atmosphäre und begegnen einander mit Wert- schätzung. Diese Haltung prägt auch die Beziehung zu den Spen- dern/innen, Betern/innen und Partnern/innen.

authentisch Wir geben unser Bestes, exzellente Arbeit zu leisten und gleichzeitig authentisch zu kommunizieren.

SPIEGLEIN, SPIEGLEIN AN DER WAND…

bereits ab dem späten Kindesalter be- ginnt. Wie wir uns selbst wahrnehmen, trägt auch dazu bei, wie unser Selbst- bild ist, also was für ein Bild wir von uns selbst haben. Das Selbstbild kann der Realität entsprechen, respektive mit dem übereinstimmen, wie auch ande- re uns sehen, oder aber es kann ver- zerrt sein. An einem schlechten Tag zum Beispiel beurteilen wir uns anders, als wenn wir uns vom Glück geküsst füh- len. Haben wir schlechte Laune, be- trachten wir uns vielleicht kritischer und finden uns weniger schön. Ob wir uns attraktiv finden oder nicht, hängt aber nicht nur mit unserem aktuellen Befinden zusammen, sondern auch mit unserem Selbstwert. Der Selbstwert ist der Wert, den wir uns selbst zuschrei- ben, also ob wir uns selbst grundsätz- lich positiv oder negativ bewerten. Die Regelmässigkeit der Ergebnisse, wie wir uns selbst wahrnehmen, was für ein Bild wir von uns haben und welchen Wert wir uns zuschreiben, kann alles in allem als unsere Identität beschrieben werden. Unsere Identität ist also nach Asendorpf (2018) unser Glaube daran, zu wissen, wer man selbst ist.

heim toll, dass wir uns mit der Gestal- tung des künftigen Zuhauses ruhig et- was Zeit lassen können? Nur gibt es da noch ein Problem: Ich weiss leider noch gar nicht, wie wir die verschiede- nen Räume überhaupt gestalten wollen. Durch die Wohnungs- gestaltung zu psycho- logischen Erkenntnissen Wie wir unsere Wohnung einrich- ten, widerspiegelt unsere Persönlich- keit. Dazu gibt es interessante psycho- logische Studien (z.B. Gosling et al., 2002 1 ). Unsere Persönlichkeit, wie sie in der Psychologie beschrieben wird, umschreibt unsere individuellen Beson- derheiten: welche körperliche Erschei- nung wir haben, wie wir uns verhalten und die Welt um uns herum wahrneh- men (Asendorpf, 2018 2 ). Wenn ich die- se Beschreibung auf unsere Wohnung übertrage, wie sie daherkommt und sich anderen präsentiert, dann würde ich aktuell sagen: «So bin ich aber nicht!» Aber was glaube ich denn, wer ich bin? Wie nehme ich mich wahr? Das müsste ich wissen, da die Wahrnehmung von einem selbst gemäss Asendorpf (2018)

Persönlicher Bericht über eine be- wusste Perspektivenänderung und was das hinsichtlich Wahrneh- mung des Selbst und der Welt um uns herum bewirken kann. Vor ein paar Monaten sind mein Mann und ich aufgrund des Nachwuchses in eine grössere Wohnung umgezogen. Nebst dem, dass ich mich auch heute noch nicht recht wohl fühle in der neu- en Wohnung, gibt es auch noch Zim- mer, die voll sind mit gepackten Kisten und alten Möbeln, die entsorgt werden sollten. Leere Ecken warten darauf, ge- staltet zu werden. «Es geht einfach nicht voran, wie ich es gerne hätte», dach- te ich kürzlich und empfand negativen Stress, welchen ich auch auf meinen Mann übertrug. Die Gedanken führten noch tiefer zu mir selbst und ich warf mir vor, überhaupt gestresst und nicht einfach locker zu sein. Folgende Fra- gen gingen mir dann durch den Kopf: Möchte ich überhaupt, dass es schnel- ler voran geht? Empfinde ich nicht ein- fach innerlichen Stress wegen dem, was andere denken könnten, wenn sie in die Wohnung kommen und diese «nicht perfekt» ist? Finde ich es nicht insge-

¹Gosling, S. D., et al. (2002). A Room with a cue: Judgments of personality based on offices and bedrooms. Journal of Personality and Social Psychology, 82. 379-398. ²Asendorpf, J. B. (2018). Persönlichkeit: was uns ausmacht und warum. Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-662-56106-5_1 14

Ich habe die Wahl – für mich

Durch die Identität in Gott erlaube ich mir also, mich und mein Dasein posi- tiv zu bewerten. Ich schaue genau hin und versuche zu erkennen, mit welchen positiven Eigenschaften er mich ausge- stattet hat. So entdeckte ich dann auch, dass hin- ter meinem Ärger über das vorhande- ne Chaos in der Wohnung, über die lee- ren Ecken und die noch vollen Kisten eigentlich mein Sinn für Ästhetik steckt. Und dass ich aufgrund meiner Liebe fürs Detail einfach mehr Zeit brau- che, um ein schönes Zuhause zu schaf- fen. Hinter meiner Unsicherheit, wie andere auf unsere Wohnung reagieren könnten, verbirgt sich meine Neugier zu erfahren, wie andere wohl ihre Um- gebung wahrnehmen und ich mich da- durch inspirieren lassen möchte.

Die neue Wohnung löste also ziemlich etwas aus. Ich bin einmal mehr über- rascht und dankbar zu erkennen, wie wertvoll es ist, wenn Gott unsere Pers- pektive verändert und hinter einem Är- gernis mehr stecken kann, als wir im ersten Augenblick zu sehen glauben.

Seit meiner Teenagerzeit glaube ich da- ran, ein Kind Gottes zu sein. Ich habe also ein überdauerndes Bild von mir selbst, angenommen, geführt und mit Begabungen ausgestattet zu sein, die ei- nem grösseren Zweck dienen und mich auch von anderen unterscheiden. Und das bewerte ich, sagen wir mal mehr- heitlich, positiv. Die Stimmung kann wie erwähnt viel beeinflussen, mal sehe ich mich befähigter oder weniger be- fähigt, angenommener oder weniger angenommen, geführt oder im Stich gelassen. Aber ich entscheide mich im- mer wieder dafür, die positiven Gedan- ken über mich anzunehmen und versu- che, mich und die Welt ummich herum mit Gottes Perspektive wahrzunehmen.

Sina Vögeli

Sina Vögeli studiert imMaster Psycho- logie an der Universität Zürich. Dane- ben arbeitet sie in der Angewand- ten Forschung und Entwicklung mit Schwerpunkt Persönlichkeitspsycho- logie und Diagnostik.

Buchtipp Das Buch «Entmachte die Lügen in deinem Kopf» der ameri- kanischen und mehrfach ausgezeichneten Autorin Jennie Allen handelt von dem ständigen Kampf gegen alltägliche (schlech- te) Gedanken.

Allen deckt auf, dass Gedanken ganze Lebensabschnitte positiv oder negativ prägen und unser Leben in die entsprechende Rich- tung lenken können. Gedanken haben diese Macht, weil Taten aus ihnen folgen. Sie erzeugen gemäss Allen eine alternative Re- alität, in welcher besonders schlechte Gedanken tatsächlich Sinn zu ergeben scheinen. Auf die Frage, warum sich viele Menschen schlechten Gedan- ken einfach hingeben, einer Abwärtsspirale folgen, meint Allen, dass vielen nicht bewusst ist, dass ein Kampf um die eigene Ge- dankenwelt stattfindet. Auch unsere Identität ist in den Gedanken verwurzelt. Neuro- logische Untersuchungen haben ergeben, dass sich unser Gehirn dem anpasst, was wir denken. Worauf wir uns also konzentrie- ren, bestimmt neurologisch, wer wir sind. Allen geht so weit, dass sie sagt: «Sag mir, was in deinen Gedanken passiert, und ich sage dir, wer du bist.» Allen gewährt in ihrem Buch einen Einblick in ihre persönliche Geschichte und ermöglicht eine neue Sicht auf die eigene Gedan- kenwelt. Mit ihrer humorvollen, ehrlichen und lockeren Schreib- weise liest sich das Buch einfach und regt zum Nachdenken und Umdenken an. Luisa Vonarburg

«WER BIN ICH UND WENN JA WIE VIELE?» Dieser Buchtitel des Philosophen Richard David Precht hat mich schon oft zum Nachdenken ge- bracht. Und gerade jetzt, wo ich mich in meinem Auslandeinsatz in Kambodscha wieder ganz neu- en Herausforderungen zu stellen habe, ist diese Frage für mich ak- tueller denn je. davon zu identifizieren. Nach einem halben Monat Einsamkeit in der Isola- tion teilte ich als Einstieg in die Wohn- gemeinschaft gleich das Bett mit einer jungen Kambodschanerin. Das verlieh zumindest der Identifizierung mit mei- ner Privatsphäre eine neue Wendung. Spätestens da fragte ich mich, wie viel von meiner Identität fix und wie viel davon flexibel ist und was Identität ei- gentlich ausmacht. zum Beispiel mein Bewegungsdrang (als langjährige Langstreckenläuferin), meine Haustierliebe, Essgewohnheiten, mein Single-Lebensstil, ein mehr oder weniger ausgeprägter Putzfimmel, die Liebe zu kühlen Temperaturen und das Bedürfnis nach einer verlässlichen Ta- gesroutine ohne Überraschungen.

Antworten und loslassen Und doch wird mir hier auch so vie- les zurückgegeben, was ich bei meinem letzten Einsatz an Identität gewonnen habe. Ich bin aufs Neue überwältigt von dem Respekt und der Liebe, die jedem Menschen entgegengebracht werden – einfach weil man da ist und ist, wie man ist. Auch staune ich wieder darüber, wie Beziehungen durch kleinste Gesten und einfachste Erlebnisse geknüpft werden. Das dadurch entstehende Band ist nicht von der Grösse der Ereignisse abhängig, sondern von der gemeinsamen Freu- de daran. Die enge Begleitung der Ler- nenden erfüllt mich ebenfalls sehr. Im Schweizer Schulalltag fühle ich mich oft unbefriedigt in meinemWunsch, jedem Kind einzeln zur Seite stehen zu kön- nen. Auch die Einfachheit der eingesetz- tenMittel fürs Lernen sowie das Finden kreativer Lösungen im Alltag anstelle der Beschaffung aller vermeintlich feh- lender Dinge entspricht meinemWesen sehr. Doch die Umstellung meines Fo- kus auf alles, was ich an Identität ge- winne im Gegensatz dazu, was zurück- gestellt werden muss, braucht Zeit und

Einige Bewohnerinnen des Carolyn English Centers mit Justine

Obwohl ich schon einmal für sechs Mo- nate in Kambodscha gelebt habe, muss ich mich auch dieses Mal erst wieder zurechtfinden: in meiner Identität zwi- schen den beidenWelten in mir und um mich herum. Bereits in der 14-tägigen Quarantäne musste ich eine komplett eigene Alltags-Welt aufbauen, die mir unerwarteterweise sogar sehr gefiel und während der ich innere Ruhe finden konnte. Aus dieser wurde ich jäh wie- der herausgerissen, als ich mein Hotel- zimmer nach 16 Tagen endlich verlas- sen durfte. Nun galt es nicht nur, mein Ich in der Aussenwelt wiederzufinden, sondern auch, meinen Platz in der acht- köpfigenWG des Carolyn English Cen- ters (Projektzweig von Lighthouse Bat- tambang) zu finden und mich als Teil

Offene Fragen Sich mit etwas zu identifizieren heisst ja, mit einer Situation persönlich überein- zustimmen und sich darin echt zu füh- len. Kann man das auch lernen und sich die Übereinstimmung mit einer Lebens- situation aneignen? Oder gibt es auch Begebenheiten, an die man sich inner- lich nicht anpassen und sich nie damit identifizieren kann? Irgendwie scheint das alles sehr subjektiv. Deshalb war ich zeitweise auch innerlich aufgewühlt und mir schossen viele Gedanken durch den Kopf und Gefühle durchs Herz. Es gibt einige Punkte, in denen mei- ne «alte» Identität vorerst stillgelegt werden muss. Darunter befinden sich

v.l.n.r. Justine, Living Leiterin Chreb und Trainee Pisey

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Geduld. Zeit wird mir genug geschenkt und ich bin voller freudiger Erwartung auf die Entwicklungen in mir und um mich herum. Schlaue Sätze und innere Prozesse Aber trotzdem fühle ich mich im Mo- ment auch ziemlich zurückgeworfen auf alles, was ich bis anhin gut über- spielen konnte oder zur Seite zu schie- ben versuchte (eine meiner Stärken, nicht immer positiv, wohl bemerkt). So lassen mich die hygienischen Zustände in unserer grossen Frauen-WG jeden Tag eine neue Überraschung entdecken oder einer Überraschung beim Entste- hen zugucken. Es ist nicht einfach, die Balance zwischen der Identität einer Mitbewohnerin und einer Leiterin zu finden, denn irgendwie bin ich beides, aber eben nicht in allen Bereichen des Projektes. Darüber konnte ich mit un- serer Haus-Verantwortlichen, die sich des Öfteren in derselben Gefühlslage befindet, ein kurzes, aber wertvolles Ge- spräch führen. Nichtsdestotrotz habe ich bei einemmorgendlichen Leitertref- fen eine emotionale Krise aufkommen spüren: denn die allgemeine Meinung, dass ich die Landessprache schon sehr gut verstehe, wirkt sich nun so aus, dass für mich gar nicht mehr übersetzt wird. Auch meine Bemerkung, nicht zu ver- stehen, wurde aus meiner Sicht igno- riert, weshalb ich mich plötzlich den Tränen nahe sah und nach dem Treffen sogleich die Flucht ergriff, um in mei- nem Lieblingskaffee an diesem Artikel weiterzuschreiben. Während ich dies schreibe, fällt mir auf, dass da gleich zwei meiner stärksten Persönlichkeits- merkmale zum Vorschein kommen,

Justine beim Unterrichten der Trainees

nämlich unangenehmen Situationen zu entfliehen und innere Probleme zu verschweigen. Meine eigene Aussage, welche ich noch in der Schweiz mach- te, holt mich wohl schneller ein als er- wartet: «Ungelöstes aus der Heimat holt die Menschen während des Auf- enthalts in einem weit entfernten Land umso stärker ein.» Mit so einer schein- bar klugen Aussage fühlt man sich erst mal gewappnet, doch eigentlich sollte ich mittlerweile wissen, dass man den Kampf gegen innere Prozesse nicht ein- fach mit einem schlauen Satz gewin- nen kann. Das habe ich schon so einige Male erfahren und zwar immer in den denkbar ungünstigsten Momenten. Ei- nerseits weiss ich, was ich brauche, um wieder zur Ruhe und in eine seelische Balance zu finden, andererseits finde ich es auch hier anspruchsvoll, he- rauszukristallisieren, wie weit ich meiner Identität und meinen Be-

dürfnissen Raum gebe und wo bereits die Flucht beziehungsweise der für mich so typische Rückzug beginnt. Auf dem Weg zu mir selbst Aber auch ich bleibe an Tagen wie die- sen nicht in meinem Schneckenhaus ste- cken und komme wieder aus meinem Versteck hervor oder werde herausge- holt. Identität empfinde ich als eine le- benslange, spannende, aber herausfor- dernde Reise. Jeder Schritt auf dieser Reise lohnt sich. Auch wenn ich mich nicht mit jedem davon identifizieren kann, bringt mich doch jeder einzelne ein Stück weiter auf dem Weg und nä- her zu mir selbst.

Justine G. Kurzzeiterin bei Lighthouse

Battambang Kambodscha

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ES LOHNT SICH! F est 2022 SAVE THE DATE 27. August 22

IMPRESSUM Redaktion & Layout SAM global Luisa Vonarburg Druck Jordi AG Herausgeberin SAM global Wolfensbergstrasse 47 CH-8400 Winterthur 052 269 04 69 winterthur@sam-global.org www.sam-global.org Auflage 6’600 Exemplare / vier Mal jährlich Bildquellen Bildarchiv SAM global S.24 unsplash.com / Yannick Pulver Bankverbindung Schweiz SWISS POST – PostFinance Nordring 8, CH-3030 Bern, Schweiz PC-Konto: 84-1706-5 IBAN: CH58 0900 0000 8400 1706 5 Clearing-Nr.: 09000 SWIFT / BIC: POFICHBEXXX

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SAM global ist eine Non-Profit-Organisation, die 1889 gegründet wurde. Mit zahlreichen europäischen und einheimischen Mitarbei- tenden leistet SAM global in elf Ländern nachhaltige Entwicklungszusammenarbeit: In Angola, Brasilien, Burkina Faso, China, Guinea, Indien, Kambodscha, Kamerun, Nepal, Sri Lanka und im Tschad. Weltweit arbeitet SAM global mit evangelischen Kirchen, einheimi- schen Partnerorganisationen und Hilfswerken zusammen. Zudem engagieren sich viele ehrenamtlich Mitarbeitende für die weltweite Arbeit. SAM steht für S ERVE A ND M ULTIPLY: Wir möchten Menschen verschiedener Kulturen und Religionen mit all ihren Bedürfnissen nach dem Vorbild von Jesus ganzheitlich dienen, sodass sie Gottes Liebe praktisch erfahren und wiederum mit anderen teilen. Der Hauptsitz von SAM global ist in Winterthur (Schweiz). Weitere Vertretungen gibt es in Ecublens (Schweiz), Frankreich und Belgien.

FOLGEN

Nächste Ausgabe im Mai:

@samglobal.org_de

Code d'honneur Ehrenkodex

23

Erschaffe in mir ein reines Herz, o Gott, und gib mir einen neuen, gefestigten Geist.

Psalm 51,12

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