Ehrenamtliches und freiwilliges Engagement junger Menschen sind sowohl in der Türkei als auch in Deutschland Themen von jugendpolitischer Bedeutung. Diese Publikation beleuchtet die Themen aus den Perspektiven beider Länder.
Ehrenamt und Herzenssache
Ehrenamt, freiwilliges Engagement und non-formale Bildung in der Türkei und in Deutschland
Expertise
Inhalt
Vorwort
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Kapitel 1: Politische Ziele, Strukturen und Formate in Deutschland und in der Türkei
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Wir arbeiten eng mit zivilgesellschaftlichen Akteuren zusammen
Wir wollen den Begriff des Ehrenamtes bei Jugendlichen und in der Gesellschaft festigen
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Kapitel 2: Grundlagen und Strukturen
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Ehrenamt und freiwilliges Engagement junger Menschen in Deutschland: Historische Entstehung, Formate und gesellschaftliche Wahrnehmung
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Kurze Geschichte des Ehrenamtes in der Türkei
Der Begriff und die Entwicklung des Ehrenamtes in der Türkei
Kapitel 3: Bildung, Qualifizierung und Zertifizierung
Deutschland
Türkei
Kapitel 4: Motivation
Motivation für ehrenamtliches Engagement junger Menschen in Deutschland Motivation für ehrenamtliches Engagement junger Menschen in der Türkei
Warum engagieren sich Menschen freiwillig? „Es ist schön, für Menschen da zu sein“
„Es war für alle eine wichtige Erfahrung, ernstgenommen zu werden“
„Es macht mich glücklich, als Freiwilliger auch für syrische Kinder eine Perspektive zu schaffen“
„Wir sind gar nicht so weit auseinander“
Glossar
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Impressum
Vorwort
Christiane Reinholz-Asolli, IJAB
Wer war dabei? Der Fachtag war ursprünglich geplant als For - mat zur Vertiefung des bilateralen jugendpo - litischen Dialogs. Als Teilnehmende waren in erster Linie die Mitglieder des deutsch-türki - schen Fachausschusses vorgesehen, ergänzt durch Expert*innen und Praktiker*innen aus beiden Ländern. Durch das Online-Format wurde es dann möglich, den angesprochenen Kreis zu erweitern. Sowohl Fachorganisationen und Forscher*innen als auch Jugendverbände, Jugendzentren, Ministerien und ehrenamtlich engagierte Menschen aus unterschiedlichsten Strukturen Deutschlands und der Türkei nah - men an dem dreiteiligen Fachtag teil. Worum ging es? Zweifellos bestehen große Unterschiede zwi - schen Deutschland und der Türkei, was die Ausprägung und die Strukturen von freiwilli - ger Arbeit/Ehrenamt anbelangt. Auf den ers - ten Blick scheint es, dass freiwillige Arbeit in Deutschland weiter verbreitet oder zumindest stärker gesellschaftlich anerkannt ist. Dennoch zeigt sich aber regelmäßig im deutsch-türki - schen Fachaustausch, dass auch umgekehrt deutsche Fachkräfte beim Besuch in der Tür - kei die hohe Bedeutung ehrenamtlicher/frei - williger Arbeit wahrnehmen und bewundern. Die Hypothese bei der Planung der Veranstal - tungsreihe war entsprechend, dass das Thema Ehrenamt/freiwillige Arbeit ein potentiell inte - ressantes Lernfeld für den deutsch-türkischen Fachaustausch darstellt und beide Seiten von
Ehrenamtliches und freiwilliges Engagement junger Menschen sind sowohl in der Türkei als auch in Deutschland Themen von jugendpoli - tischer Bedeutung. Der Plan, sich im Rahmen der deutsch-türkischen jugendpolitischen Zu - sammenarbeit mit dem Thema Ehrenamt zu beschäftigen, entstand schon im Jahr 2019. Die Türkei war damals gerade dabei, das Jahr des Ehrenamtes einzuläuten. Seitdem wurden dort viele verschiedene auch längerfristige Projekte dazu auf den Weg gebracht. Auch in Deutschland sind die Förderung und die Ent - wicklung von Engagement und Ehrenamt ein bedeutsames Thema. Entsprechend fasste der deutsch-türkische Fachausschuss den Ent - schluss, einen Fachtag „Ehrenamt und freiwil - liges Engagement junger Menschen und non- formale Bildung“ durchzuführen. Aus Gründen der Pandemie erst um ein, dann um zwei Jahre verschoben, fand der geplante Fachtag schließlich in Form einer Online-Ver - anstaltungsreihe im Oktober/November 2021 statt. Die drei Module beschäftigten sich je - weils mit einem der Themencluster, die von ei - ner deutsch-türkischen Vorbereitungsgruppe als zentral in der Fachdiskussion beider Länder identifiziert worden waren: » » Modul I Ehrenamt und freiwilliges Engagement junger Menschen und non-formale Bildung: Politische Strategie, geschichtlicher Hinter - grund, aktuelle Ziele, Formen und Formate » » Modul II Qualifizierung, Bildung, Anerkennung, Zertifizierung » » Modul III Ehrenamt der Zukunft: Beteiligung, Inklu sion, neue Zielgruppen, Digitalisierung
diesem Austausch profitieren würden. Das hat sich genauso bewahrheitet. Herausgestellt hat sich aber auch, dass sich sowohl die Be - grifflichkeiten als auch das Grundverständnis von Ehrenamt und freiwilligem Engagement in Deutschland und der Türkei deutlich vonein - ander unterscheiden. Sinnbild für diesen anderen Ansatz sind für die Teilnehmenden im Lauf der Veranstaltung die beiden zentralen Worte in beiden Sprachen geworden, die für den bearbeiteten Themen - bereich stehen: das Begriffspaar „Ehrenamt“ und „gönüllülük (Freiwilligenarbeit, wörtlich: Herzenssache)“. Hinter der Hervorhebung dieser beiden Begriffe verbirgt sich die Ein - sicht, dass sowohl die Beschäftigung mit der Terminologie als auch die intensive Auseinan - dersetzung mit Konzepten und mit der prak - tischen ehrenamtlichen/freiwilligen Arbeit an der Basis eine wichtige Voraussetzung für das Verständnis des jeweils anderen Systems dar - stellt. Dringt man durch die erst einmal fremd anmutenden Schichten der anderen Begriffe, Systeme und Akteure, offenbaren sich in der gelebten Praxis der engagierten Menschen hier wie dort ähnliche Motivation und ähnli - che Tätigkeiten. Diese Publikation In den dieser Publikation zugrunde liegenden drei Veranstaltungen des Fachtags haben wir uns dem komplexen Thema Ehrenamt und freiwilliges Engagement von verschiedenen Seiten angenähert. Im ersten Modul ging es hauptsächlich um die historische Genese, um die Definition von Begriffen und Formaten und um aktuelle jugendpolitische Schwerpunkte. Das zweite Modul konzentrierte sich auf An - sätze der Qualifizierung anhand konkreter Bei - spiele verschiedener Träger. Im dritten Modul ging es um Fragen der Motivation sowie um Möglichkeiten, neue Zielgruppen zu erreichen. Dabei gehörte es zum Konzept, jeden Themen - schwerpunkt inhaltlich jeweils aus beiden Län - dern zu beleuchten. Sowohl Wissenschaft und Forschung als auch Politik und Verwaltung, Fachverbände, Jugendorganisationen waren vertreten. Sowohl die Leitungsebene als auch junge Freiwillige kamen zu Wort und sind auch
hier in Beiträgen vertreten. Um die Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Beiträge zu bewah - ren und nicht in eine künstliche Systematik zu pressen, listet diese Veröffentlichung nicht jeweils einen deutschen und einen türkischen Text zum gleichen Thema auf, sondern präsen - tiert die Beiträge in Form eines ineinandergrei - fenden Mosaiks – in diesem Sinne ist dies keine klassische Veranstaltungsdokumentation. Gemeinsamkeiten und Unterschiede Gemeinsam ist beiden Ländern, dass die An - fänge des Ehrenamtes jeweils weit zurück in der Geschichte liegen, zugleich aber die aktuel - le Politik und Gesellschaft sowohl in Deutsch - land als auch in der Türkei dem freiwilligen Engagement junger Menschen eine große Be - deutung beimessen. In der Türkei entstanden die ersten institutio - nalisierten ehrenamtlichen Aktivitäten im Kon- text religiöser Stiftungen. Das Stiftungswesen war im Osmanischen Reich weit verbreitet und sehr entwickelt. Diese Stiftungen widmeten sich vorwiegend karitativen und Bildungszwe- cken. Bis heute spielen Stiftungen im Bereich Bildung und soziale Arbeit in der Türkei eine wichtige Rolle. Die Wahrnehmung des freiwil - ligen Engagements in der Türkei ist bis heu - te stark geprägt von dem Motiv des Helfens. Dabei gehört es bis heute zum guten Ton, das Engagement nicht an die große Glocke zu hän - gen. Ein türkisches Sprichwort sagt, dass dabei selbst die linke Hand nicht wissen solle, was die rechte tut. In Deutschland ist die historische Entstehung des Ehrenamtes verknüpft mit der wachsen - den Bedeutung des Bürgertums. Zwar ist auch hier die Wohlfahrt eines der zentralen The - men, dies aber im gesellschaftlichen Kontext einer entstehenden bürgerlichen Selbstorga - nisation. Aspekte von Partizipation und Mitge - staltung spielen hier von Anfang an eine Rolle. Spätestens mit der Einführung der geregelten Freiwilligendienste ab den 1990er Jahren sind in Deutschland auch Fragen von Qualifizie - rung, Anerkennung und Zertifizierung fest mit dem Thema Ehrenamt verbunden.
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»» Diese Begegnungen sind eine gute Möglichkeit, unsere Arbeit zu reflektieren, abzulegen – denn man hat immer nur Angst vor etwas, was man nicht kennt. « Erkan Şamiloğlu, Ministerium für Jugend und Sport uns besser kennen zulernen und Ängste
Unterschiede in der Ausprägung von freiwilli - gem Engagement in beiden Ländern sind oft bedingt durch die sehr unterschiedlichen po - litischen und gesellschaftlichen Strukturen. Ein Stichwort ist beispielsweise eine föderale gegenüber einer zentralverwalteten Organi - sation des Staates. Während in Deutschland die praktische Umsetzung zum Beispiel der Jugendarbeit in erster Linie durch die Vereine und Verbände auf lokaler Ebene geschieht, ver - steht sich in der Türkei der Staat als zentraler Akteur. Dies bringt es mit sich, dass auch die Orte, an denen Ehrenamt stattfindet, in beiden Ländern unterschiedlich sind: In Deutschland findet ehrenamtliches Engagement in der Zi - vilgesellschaft und klassischerweise in einem Verein oder Verband statt. Demgegenüber engagieren sich Menschen in der Türkei oft auch im Kontext staatlicher Projekte. Forscher beschreiben sogar gewisse Vorbehalte, sich in Nichtregierungsorganisationen zu engagieren. Häufig findet dort das ehrenamtliche Engage - ment im gleichen Bereich wie die professionel - le Berufstätigkeit statt – wie zum Beispiel der Berufschullehrer, der im Rahmen eines Pro - jektes des Bildungsministeriums ehrenamtlich den Kontakt zu syrischen Familien sucht, um sie von den Vorteilen einer Berufsausbildung für ihre Töchter zu überzeugen. Möglicherweise hängt mit dieser Tatsache auch das Phänomen zusammen, dass im Rahmen von Studien eine Diskrepanz festgestellt wur - de zwischen der hohen Zahl derer, die sich in der Türkei engagieren wollen, und denen, die tatsächlich als Engagierte in den Statistiken er - fasst werden. Das Engagement von im Bereich Bildung oder Soziale Arbeit Tätigen über ihre Dienststunden hinaus, das in der Praxis häufig
zu beobachten ist, wird von den Engagierten selbst unter Umständen gar nicht als Eh - renamt wahrgenommen und findet nicht Eingang in die Statistiken. Was können wir voneinander lernen? Der Mehrwert des deutsch- türkischen Austausches liegt generell – so wie meist im in - ternationalen Fachaustausch
– nicht in der einfachen Übertragung von Kon - zepten von einem auf das andere Land. Es geht vielmehr darum, im Spiegelbild der anderen Realität die eigene Praxis neu wahrzunehmen und daraus Impulse für eine Weiterentwick - lung zu ziehen. Aktuell ist sowohl in Deutschland als auch in der Türkei die Förderung von ehrenamtlichem Engagement junger Menschen ein wichtiges Thema. Für beide Länder nimmt dabei die Frage nach einer Weiterentwicklung in Rich - tung Zukunft besondere Bedeutung ein. Dies trifft in hohem Maß auf den Themenbereich Digitalisierung und auf die Förderung des En - gagements neuer Zielgruppen zu. Gerade hier bestehen viele gemeinsame Interessen und Möglichkeiten, voneinander zu lernen. Prak - tische Beispiele der Veranstaltungsreihe, die auch im Folgenden Erwähnung finden, sind die neue digitale Ehrenamtlichen-Plattform des Ministeriums für Jugend und Sport, Projekt - arbeit mit jungen Geflüchteten im Süden der Türkei oder die Thematisierung von Ehrenamt im Rahmen von Schule.
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KAPITEL 1
Politische Ziele, Strukturen und Formate in Deutschland und in der Türkei
Welche politischen Rahmenbedingungen für Ehren amt und freiwilliges Engagement existieren in Deutschland und in der Türkei? Welche aktuellen Initiativen gibt es in beiden Ländern, um das Engage ment junger Menschen zu stärken? Die Interviews mit Verantwortlichen aus dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und dem Ministerium für Jugend und Sport in diesem Kapitel geben Auskunft.
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Wir arbeiten eng mit zivilgesellschaftlichen Akteuren zusammen Interview mit Christoph Engler und Hanno Fietz vom Bundesministe rium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Herr Engler, Sie sind im Referat Engagementförde rung des BMFSFJ täglich mit dem Thema Engagement beschäftigt. Warum ist dieses Engagement aus Ihrer Sicht so wichtig? Christoph Engler: Bürgerschaftliches Engagement bedeutet immer, dass Menschen Zeit und materielle oder finanzielle Ressourcen investieren, die am Ge - meinwohl orientiert sind und zu einer Verbesserung von gesellschaftlichen Problemlagen beitragen kön - nen. Und im Gegensatz zum hoheitlichen Handeln der Verwaltung oder des Staates nehmen die Bür - gerinnen und Bürger hier etwas selbst in die Hand. Das ist unverzichtbar für unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt. Der Staat unterstützt und fördert Ehrenamt und Engagement in unterschiedlicher Weise. Wer ist denn auf Bundesebene für diese Themen zuständig? Christoph Engler: Das Innenministerium (BMI) küm - mert sich um das klassische Ehrenamt im Bereich THW und Feuerwehr. Zudem kümmert sich das Land - wirtschaftsministerium (BMEL) um Engagement in ländlichen Räumen. Im Finanzministerium (BMF) steht die steuerliche Förderung im Vordergrund – wichtige Stichworte sind hier Übungsleiter- und Ehrenamts - pauschale. Wir im Bundesministerium für Familie, Se - nioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) bezeichnen uns gerne als „Engagementministerium“: Seit 2019 haben wir hier eine eigene Abteilung „Demokratie und Enga - gement“. Das ist eine klare Aufwertung des Bürger - schaftlichen Engagements und des Ehrenamts.
Und was tut das BMFSFJ in dieser Funktion konkret?
Christoph Engler: Unsere zentrale Aufgabe ist es, die richtigen Rahmenbedingungen für Engagement zu setzen und eine Kultur der Anerkennung zu schaffen. So vergeben wir seit 2009 den Deutschen Engage - mentpreis und richten seit 2016 den Deutschen En - gagementTag aus. Außerdem haben wir verschiedene Förderprogramme aufgelegt.
Welche Förderprogramme sind das?
Christoph Engler: Ein Beispiel ist das Bundespro - gramm „Menschen stärken Menschen“. Hier fördern und unterstützen wir derzeit 25 bundesweit agieren - de Trägerorganisationen, die bürgerschaftliches En - gagement in Form von Patenschaften für Geflüchtete stärken. Seit 2018 fördern wir auch Patenschaften für Menschen, die sich in benachteiligenden Lebens - situationen befinden. Bis September 2021 konnten über 155.000 Patenschaften gestiftet werden. Ein weiteres gutes Beispiel ist das Programm „Engagierte Stadt“. Hier fördern wir als Förderpartner den Aufbau bleibender Engagementlandschaften in 100 ausge - wählten Städten und Gemeinden mit einer Größe zwischen 10.000 und 250.000 Einwohnerinnen und Einwohnern. Im Rahmen des Programms werden bürgerschaftliches Engagement in Kommunen und Gemeinden strategisch weiterentwickelt und nachhal - tige Partnerschaften zur Engagementförderung zwi - schen öffentlicher Hand, Zivilgesellschaft und lokaler Wirtschaft initiiert und ausgebaut.
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Wie ist denn das BMFSFJ mit den zivilgesellschaft lichen Akteuren vernetzt?
wertiger Lebensverhältnisse in Deutschland. Die Stif - tung unterstützt als zentrale Anlaufstelle auf Bundes - ebene mit Serviceangeboten und Informationen zur Organisationsentwicklung, fördert Innovationen im Bereich der Digitalisierung, stärkt Engagement- und Ehrenamtsstrukturen. Ein wichtiges Thema ist dabei die Vernetzung von Bund, Ländern, Kommunen, Wirt - schaft und Zivilgesellschaft. Dafür stehen der Stiftung jährlich 30 Millionen Euro aus dem Bundeshaushalt zur Verfügung. Die Errichtung der Stiftung war auch mit Blick auf die gesetzlichen Grundlagen für das Engagement in Deutschland wichtig, oder? Christoph Engler: Ja genau. Mit der Gründung der Stiftung wurde erstmals eine gesetzliche Definition für Bürgerschaftliches Engagement und Ehrenamt festgeschrieben. Im Errichtungsgesetz zur DSEE heißt es unter § 2 Absatz 2: „Bürgerschaftliches En - gagement ist der freiwillige, unentgeltliche und am Gemeinwohl orientierte Einsatz einer oder mehre - rer Personen auf Basis der freiheitlichen demokra - tischen Grundordnung. Ehrenamt ist das bürger - schaftliche Engagement für eine Organisation, die ohne Gewinnerzielungsabsicht Aufgaben ausführt, die im öffentlichen Interesse liegen oder gemeinnüt - zige, kirchliche beziehungsweise mildtätige Zwecke fördern“. Diese juristische Definition war schon ein wichtiger Schritt. Es gibt aber in Deutschland weiter - hin kein eigenes Engagementgesetz wie zum Beispiel in Österreich. Kommen wir zu einem spezifischen Format des frei willigen Engagements in Deutschland. Herr Fietz, Sie sind im BMFSFJ für Jugendfreiwilligendienste zustän dig. Ist das Format ein Erfolgsmodell? Hanno Fietz: Die Freiwilligendienste sind in der Tat eine wichtige Säule in der Engagementlandschaft in Deutschland. Jedes Jahr absolvieren über 90.000 zumeist junge Menschen einen Freiwilligendienst, Tendenz steigend. Im Jahr 2020 haben rund 40.000 Menschen einen BFD geleistet, weit über 50.000 ei - nen JFD. Damit haben Sie bereits die beiden großen Formate des Freiwilligendienstes angesprochen: Den Bundes freiwilligendienst (BFD) sowie die Jugendfreiwilligen dienste (JFD). Worin liegen die wesentlichen Unter schiede?
Christoph Engler: Verbände, Stiftungen und Spen - den sind wichtige Säulen der Engagementpolitik. Deshalb arbeiten wir mit zivilgesellschaftlichen Ak - teuren wie dem Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement (BBE), dem Bündnis für Gemeinnützig - keit, der freien Wohlfahrt, der Bundesarbeitsgemein - schaft der Freiwilligenagenturen (bagfa) und vielen anderen zusammen. Wir unterstützen außerdem Bürgerstiftungen und fördern die Spendenberatung. Auch innerhalb der Förderprogramme arbeiten wir eng mit zivilgesellschaftlichen Akteuren zusammen. So wird beispielsweise das Patenschaftsprogramm „Menschen stärken Menschen“ von 25 zivilgesell - schaftlichen Institutionen bundesweit umgesetzt, zwei dieser Institutionen sind die Türkische Gemein - de in Deutschland und der Sozialdienst muslimischer Frauen. Inzwischen setzen die Trägerorganisationen das Programm mit mehr als 700 Unterstrukturen im Bundesgebiet um. Apropos Stiftungen. 2020 wurde die Deutsche Stiftung für Engagement und Ehrenamt gegründet. Was sind Aufgaben und Ziele der Stiftung? Christoph Engler: Die DSEE ist eine Stiftung des Bun - des mit dem Ziel, bürgerschaftliches Engagement und Ehrenamt insbesondere in strukturschwachen und ländlichen Räumen zu fördern und zu stärken. Damit leistet die Stiftung einen Beitrag zur Schaffung gleich -
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Hanno Fietz: Grundsätzlich ja. Denn eine weitere wich - tige Unterscheidung der beiden Formate ist, dass der BFD Menschen allen Alters offensteht, während die JFD bzw. Länderfreiwil - ligendienste Menschen bis 27 Jahren offenstehen. Ein
Hanno Fietz: Die wichtigste Unterscheidung liegt in der staatlichen Kompetenzverteilung und Finanzie - rung. Beim BFD ist hier einzig der Bund zuständig. Das bedeutet, dass alle Aufgaben wie zum Beispiel die An - erkennung von Einsatzstellen und die Bezuschussung verschiedener Komponenten wie Taschengeld, So - zialversicherungsbeiträge und pädagogische Beglei - tung der Freiwilligen mit bestimmten Förderbeträgen durch den Bund erfolgen.
paar Zahlen zur Einordnung: Rund 73 % der Freiwil - ligen im BFD sind unter 27 Jahre. Der Anteil der Frei - willigen über 50 Jahre beträgt rund 13%. Wir möchten grundsätzlich in allen Altersstufen ein Engagement fördern. Es zeigt sich aber, dass sich die bereits im jungen Alter engagierten Menschen – zum Beispiel in Form eines Freiwilligendienstes – häufiger auch im weiteren Leben engagieren. Uns ist es deshalb wich - tig, Menschen am Übergang von Schule zum Beruf be - ziehungsweise zur Ausbildung oder zum Studium zu erreichen. Um ehemalige Freiwillige für ein langfristi - ges Engagement zu gewinnen, haben einige Akteure zum Beispiel auch Alumniprojekte aufgelegt.
Und bei den JFD?
Hanno Fietz: In den JFD mit den nationalen Unter - formaten des Freiwilligen Sozialen Jahres (FSJ) und Freiwilligen Ökologischen Jahres (FÖJ) sind hinsicht - lich der Durchführung und Finanzierung die 16 deut - schen Bundesländer zuständig. Deshalb werden diese Dienste teilweise auch als Länderfreiwilligen - dienste bezeichnet. Ausnahme ist hier die Finanzie - rung der pädagogischen Begleitung der Freiwilligen – hier finanziert auch bei den JFD der Bund mit. Die ganz konkrete Umsetzung der pädagogischen Beglei - tung erfolgt durch pädagogisches Fachpersonal bei den einzelnen Trägern in den JFD. Der Unterschied zwischen BFD und JFD liegt hauptsächlich in der Or - ganisation und Finanzierung. Für die Freiwilligen sel - ber gibt es im praktischen Einsatz in beiden Formaten ganz ähnliche und vielfältige Einsatzbereiche. Zahl - reiche Einsatzstellen nehmen sowohl Freiwillige aus dem BFD als auch aus dem JFD auf. Ausnahmen sind hier die Finanzierung besonderer Maßnahmen zur Qualitätssicherung und Weiterent - wicklung der Jugendfreiwilligendienste sowie die Fi - nanzierung der pädagogischen Begleitung der Freiwil - ligen – hier finanziert auch bei den JFD der Bund mit. Sie haben bereits angedeutet, dass sich vor allem junge Menschen für einen Freiwilligendienst entschei den. Könnten denn auch Ältere in diesem Rahmen Engagement zeigen?
Was ist aus Ihrer Sicht ein besonders positives Merk mal der Freiwilligendienste in Deutschland?
Hanno Fietz: Sowohl im Bundesfreiwilligendienst als auch in den Jugendfreiwilligendiensten werden alle Freiwilligen neben ihrem praktischen Einsatz in den Einsatzstellen auch von pädagogischen Fachkräften begleitet – das ist ein ganz zentraler und wichtiger Baustein. Für viele Freiwillige sind besonders die be - gleitenden Seminare, in denen sie insgesamt 25 Tage im Jahr mit anderen Freiwilligen zusammenkommen, sehr schöne und auch prägende Erlebnisse. Eigene Themenwünsche werden bei der inhaltlichen Gestal - tung berücksichtigt und neben dem Austausch etwa zu gesellschaftspolitischen Themen oder Fragestel - lungen zur ganz persönlichen Entwicklung steht auch das soziale Miteinander im Vordergrund.
Christoph Engler ist Referent im Referat Grundsatzan gelegenheiten der Engagementpolitik im Bundesministe rium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ). Hanno Fietz ist Referent im Referat Jugendfreiwilligen dienste im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ).
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Wir wollen den Begriff des Ehrenamtes bei Jugendlichen und in der Gesellschaft festigen
Interview mit Ümran Dilek Toprak und Erkan Şamiloğlu vom Ministerium für Jugend und Sport
den Ausbau von Management, die Ausbildung in Eh - renamt und Freiwilligenarbeit und die Anerkennung und Auszeichnung von Freiwilligenarbeit.
Können Sie uns auch die Ziele dieser Initiative beschreiben?
Frau Toprak, Sie arbeiten im Generaldirektorat für Bildung, Forschung und Koordination im Ministerium für Jugend und Sport. Ist die Türkei ein „Land der Freiwilligen“? Ümran Dilek Toprak: Die Türkei blickt auf eine lan - ge und ausgeprägte Kultur der Nächstenhilfe und Stiftungsarbeit zurück und ist derzeit Gastgeberin für rund vier Millionen Geflüchtete aus Syrien. Nach Angaben des Global Humanitarian Assistance Report von 2018 ist die Türkei mit humanitären Hilfen von 0,85 % ihres nationalen Einkommens eines der „groß - zügigsten“ Länder weltweit. Doch leider sehen wir, dass organisiertes und nachhaltiges Ehrenamt und freiwilliges Engagement in der Türkei noch nicht auf dem gewünschten Niveau sind.
Erkan Şamiloğlu: Gerne. Wir wollen die Freiwilligen - arbeit langfristig etablieren und besser strukturieren. Jugendlichen soll ermöglicht werden, in gemeinnützi - gen Institutionen wie Schulen, Bibliotheken, Kranken - häusern oder Museen langfristig Aufgaben zu über - nehmen. Und auch im kulturellen und künstlerischen Bereich sowie im Sport soll die Freiwilligenarbeit angeregt und unterstützt werden. Ganz wichtig: En - gagement soll sich für die Jugendlichen auch lohnen! Freiwillige und ehrenamtlich tätige Jugendliche sollen bei Bewerbungen zum Jugendleiter, Jugendcamplei - ter oder zur Teilnahme an Jugendcamps vorrangig be - handelt werden. Ganz wichtig ist uns auch das Thema Qualifizierung: Es sollen Online-Fortbildungen und Seminare zum Thema Freiwilligenarbeit und Verwal - tung von Freiwilligenarbeit weiterentwickelt werden. In Zusammenarbeit mit verschiedenen Behörden und Ämtern sollen Weiterbildungen in den Bereichen Natur- und Umweltschutz, Katastrophenschutz, Frei - willige Feuerwehr und ehrenamtlicher Sanitäts- und Rettungsdienst angeboten werden. Außerdem wollen wir Studien zum Thema Freiwilligenarbeit unterstüt - zen, um gezieltere Politik zu machen. Sie haben eben schon die Zusammenarbeit mit Behörden und Institutionen angesprochen. Haben Sie hierfür ein konkretes Beispiel, Frau Toprak? Ümran Dilek Toprak: Wir haben mit zahlreichen Be- hörden und NGOs „Protokolle zur Zusammenarbeit in der Freiwilligenarbeit“ unterzeichnet. Ein wichti - ges Beispiel ist das zwischen dem Hochschulrat YÖK und unserem Ministerium unterzeichnete Protokoll. Ab dem Studienjahr 2020-2021 wird an den Univer - sitäten das Wahlfach „Freiwilligenarbeit“ angeboten. Dieses Wahlfach bietet Studierenden die Gelegenheit, nach einem erarbeiteten Plan und in einem bestimm - tem Bereich Freiwilligenarbeit zu übernehmen und die daraus gewonnenen Ergebnisse wissenschaftlich aufzuarbeiten und zu teilen.
Das ist interessant. Und wie reagiert Ihr Ministerium auf diesen Befund, Herr Şamiloğlu?
Erkan Şamiloğlu: Wir haben sehr schnell reagiert. Der Minister für Jugend und Sport, Herr Dr. Mehmet Muharrem Kasapoğlu, hat am 7. Dezember 2018, am UN-Freiwilligentag, einen landesweiten Aufruf zum Thema Ehrenamt und freiwilliges Engagement gestar - tet und hierfür das Jahr 2019 zum „Jahr der Freiwilli - genarbeit“ erklärt. In diesem Rahmen wurde mit 954 NGOs und mehr als 100 Vertretern der Print-, Film- und sozialen Medien sowie Universitätsrektoren ein Einführungsprogramm für das Jahr der Freiwilligen - arbeit 2019 durchgeführt und das Strategiepapier zur Freiwilligenarbeit 2019 veröffentlicht.
Welche Themen umfasst denn das Strategiepapier?
Ümran Dilek Toprak: Wir wollen den Begriff des Eh - renamtes bei Jugendlichen und in der Gesellschaft festigen. Das Strategiepapier zur Freiwilligenarbeit umfasst deshalb sechs Themen, die wir als grundle - gend für das Feld der Freiwilligenarbeit identifiziert haben, darunter die Stärkung der Freiwilligenkultur,
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»» Unsere Plattform möchte
Hindernisse abbauen. So kann niemand mehr sagen: Ich weiß nicht, wo ich mich freiwillig engagieren kann. « Erkan Şamiloğlu, Ministerium für Jugend und Sport
Gab es noch weitere Aktivitäten von Seiten Ihres Ministeriums, Herr Şamiloğlu?
Erkan Şamiloğlu: Ja, ebenfalls 2019 haben wir den Aktionsplan für Freiwilligenarbeit erstellt und er ist auch in Kraft getreten. Der Aktionsplan für 2020 konnte aufgrund der Pandemie nicht aktualisiert werden, wurde allerdings 2021 erweitert und als Ak - tionsplan für Freiwilligenarbeit 2021 veröffentlicht. Im selben Jahr wurde in Zusammenarbeit mit dem Forschungszentrum für Soziologie an der Philosophi - schen Fakultät der Istanbul Universität eine Studie zum Thema Ehrenamt und freiwilliges Engagement in der Türkei durchgeführt. Ziel dieser Studie ist es, die Ist-Situation und das Potential von Ehrenamt und freiwilligem Engagement darzustellen sowie neue Modelle zur Auswertung wissenschaftlicher Daten und Analysen zu entwickeln. Geplant ist, diese tür - keiweite Studie in eine Längsschnittstudie zu ver - wandeln. Die Digital Natives sind in aller Munde. Herr Şamiloğlu, nutzen Sie digitale Medien, um junge Menschen für ein freiwilliges Engagement zu gewinnen? Erkan Şamiloğlu: Ja, wir haben hier wirklich inves - tiert. Unter dem Motto „Sei dabei!“ möchte das Mi - nisterium für Jugend und Sport das Bewusstsein für Ehrenamt und freiwilliges Engagement in der Gesell - schaft stärken und hat hierfür vor sechs Jahren die Plattform www.gencgonulluler.gov.tr geschaffen. Hier treffen Organisationen des Ehrenamtes mit Freiwil - ligen zusammen, die sich engagieren möchten. Die Plattform stützt sich auf wichtige Werte wie Gleichbe - rechtigung, Transparenz, Rechenschaft und Nachhal - tigkeit und bietet Jugendlichen zu sechs Themenbe - reichen zahlreiche Möglichkeiten, sich ehrenamtlich und freiwillig zu engagieren. Organisationen, die nach Freiwilligen suchen, oder Freiwillige, die eine Organi - sation suchen, in der sie sich im Bereich Sport, Kul - tur, Tourismus, Umwelt, Katastrophenschutz, Bildung, Gesundheit oder Sozialdienste ehrenamtlich engagie -
ren können, finden auf der Plattform zusammen und können alle Anzeigen gleichzeitig einsehen und sich direkt bewerben.
Welchen Mehrwert bietet die Plattform den Jugend lichen?
Ümran Dilek Toprak: Die Plattform bietet einen wechselseitigen Nutzen. Organisationen auf der ei - nen und Freiwillige auf der anderen Seite können sich gegenseitig bewerten und Punkte sammeln. So kön - nen zum Beispiel junge Menschen, die in eine neue Stadt ziehen und sich engagieren wollen, auf der Plattform schauen, welche der lokalen Organisation von anderen Freiwilligen gut bewertet wurde. Das System registriert die ehrenamtliche Arbeit der en - gagierten Jugendlichen und ermöglicht für zukünftige Bewerbungen oder beruflich notwendige Nachweise eine Referenzangabe. Somit haben Jugendliche einer - seits die Möglichkeit, sich unentgeltlich im Dienst der Gesellschaft zu engagieren, sich dabei persönlich wie fachlich weiterzubilden, und gleichzeitig für ihre be - rufliche Zukunft wichtige Erfahrungen und Referen - zen zu sammeln. Erkan Şamiloğlu ist stellvertretender Generaldirektor des Generaldirektorats für Bildung, Forschung und Koor dination im Ministerium für Jugend und Sport. Ümran Dilek Toprak arbeitet im Generaldirektorat für Bildung, Forschungund Koordination im Ministerium für Jugend und Sport.
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KAPITEL 2
Grundlagen und Strukturen
Wie sind Ehrenamt und freiwilliges Engagement in Deutschland und in der Türkei entstanden? Auf welchen historischen und gesellschaftlichen Ent wicklungen fußt die Engagementkultur? In beiden Ländern gibt es seit dem Mittelalter bzw. den Tagen des Osmanischen Reichs Stiftungen als frühe Form freiwilligen Engagements. Wie es dann weiterging, zeigen die Darstellungen in diesem Kapitel.
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Ehrenamt und freiwilliges Engagement junger Menschen in Deutschland: Historische Entstehung, Formate und gesellschaftliche Wahrnehmung
Wolfgang Hinz-Rommel
In Deutschland lassen sich im We - sentlichen drei Traditionslinien für das freiwillige Engagement von Bür - gerinnen und Bürgern verfolgen. Die Begriffe Ehrenamt, Freiwilliges oder Bürgerschaftliches Engagement sind umgangssprachlich nicht klar unter - schieden, obwohl sie bereits auf die unterschiedlichen Traditionen ver - weisen. Die Ursprünge des Begriffs „Ehren - amt“ und das damit verbundene inhaltliche Verständnis liegen im Kö - nigreich Preußen. Um Aufruhr und Revolution zu verhindern, räumte die Preußische Städteordnung von 1808 dem aufstrebenden Bürgertum konkrete Mitgestaltungsrechte und Beteiligungsmöglichkeiten ein, leg - te damit aber auch Pflichten in der kommunalen Selbstverwaltung fest. Die Bürger konnten ein „Ehren- Amt“ übernehmen und sich zum Bei - spiel als Schöffen einbringen. Diese Tradition besteht ungebrochen bis heute, obwohl sie an Bedeutung verloren hat. Schöffen, Wahlhelfe - rinnen, Freiwillige bei der Feuerwehr oder im Katastrophenschutz enga - gieren sich im Rahmen eines solchen Ehrenamtes und bekommen dafür eine Aufwandsentschädigung.
Landflucht und Industrialisierung führten ab Mitte des 19. Jahrhun - derts zu Not und Armut in den Städ - ten. Tausende lebten dort unter pre - kären Verhältnissen, weil sie keine Arbeit und keine Unterkunft fanden oder nur einen geringen Lohn für ihre Tätigkeit in den Fabriken erhiel - ten. In dieser Situation entwickelte sich die Wohlfahrtspflege : Aus dem oftmals spontanen Engagement Einzelner entstanden Fürsorgeein - richtungen zum Beispiel für Kinder, Kranke und Erwerbslose, in denen sich Menschen freiwillig um die Be - dürftigen kümmerten. Nach und nach wurden diese Einrichtungen dann professionalisiert und in das Sozialsystem integriert. Auch heute ist freiwilliges Engagement in Notsi - tuationen für viele Menschen selbst - verständlich. Das war 2016 während der Flüchtlingskrise in Deutschland umfassend spür- und sichtbar. Eine dritte Traditionslinie ist die lo- kale Vereinskultur , in der ab Mitte des 19. und vor allem zu Beginn des 20. Jahrhunderts das bürgerliche Leben in vielfältiger Weise zum Aus - druck kam. Das Ziel der Vereine war klar definiert: Selbsthilfe und Enga - gement für Andere standen im Mit - telpunkt, egal, ob es um sportliche
oder politische Aktivitäten, Bildungs- oder Freizeitangebote ging. Der Vor - teil eines Vereins lag dabei auf der Hand: Er bot durch seine festgelegte Rechtsform einen verlässlichen Rah - men. Bis heute spielen Vereine eine überragende Rolle für die Gewin - nung von freiwillig Engagierten. Der überwiegende Teil des Engagements wird im Rahmen von Vereinen ge - leistet. Schließlich müssen hier ergänzend auch die Stiftungen erwähnt wer- den. Sie sind wahrscheinlich die früheste Form freiwilligen Engage - ments, denn bereits seit dem Mit - telalter existiert diese Tradition im deutschen Sprachraum. Sie basiert jedoch auf einer anderen Grundla - ge als die oben genannten Engage - mentformen: Das Ziel war und ist hier zunächst, ein bestehendes Ver - mögen für einen spezifischen phil - anthropischen Zweck zu sichern. Um Stiftungen herum entsteht oftmals Engagement in großem Umfang. Kein Engagement ohne Freiheit In den Jahren der nationalsozialis - tischen Diktatur und der Zerschla - gung der Zivilgesellschaft zwischen
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Die 50er Jahre: Entstehung der Freiwilli gendienste 1954 entstand vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels das Diakoni - sche Jahr – es gilt als Keimzelle der Freiwilligendienste, wie wir sie heu - te kennen. Bereits drei Jahre später wurde das Freiwillige Soziale Jahr (FSJ) gesetzlich geregelt. 1990 kam das Freiwillige Ökologische Jahr (FÖJ) hinzu, 2008 der entwicklungspoliti - sche Freiwilligendienst „weltwärts“. Die Aussetzung der allgemeinen Wehrpflicht 2011 gab dieser Entwick - lung neuen Schub: mit dem Bundes - freiwilligendienst wurde ein weiteres erfolgreiches Format geschaffen.
1933 und 1945 gab es kein freiwilli - ges Engagement im Wortsinn mehr: Sämtliche Organisationen, Verbände und Vereine waren gleichgeschaltet, jedwedes Engagement grundsätz - lich staatlichen Zielen untergeord - net. Freiheit und Vielfalt waren als Grundpfeiler einer echten Zivilge - sellschaft nicht mehr existent. Nach 1945 nahmen Ost- und West - deutschland eine unterschiedliche Entwicklung. In der DDR lässt sich eine weitgehend staatliche Lenkung der Aktivitäten beobachten, wobei die kirchlichen Strukturen hierbei einen vergleichsweise geschützten Raum bieten konnten. In der BRD knüpften die Organisa - tionen mit dem Wiederaufbau nach dem Krieg an die zivilgesellschaftli- chen Strukturen der Weimarer Re - publik an. Vor allem die Jugendver - bände erlebten eine neue Blütezeit: Sie organisierten Ferienfreizeiten, engagierten sich zunehmend in der außerschulischen Jugendbildung und bauten auch ihre politische Lobbyarbeit sichtbar aus.
politische Strukturen eingebunden und auch gefördert. In einer Reihe von Bundesländern wird Engage - ment strategisch unterstützt. In den letzten Jahren zeigte sich, dass sich die Erwartungen und Ansprüche der Engagierten gewandelt haben. Langfristige Verbindlichkeit ist we - niger gefragt als temporär begrenz - tes Engagement für ein konkretes Projekt. Viele Engagierte wünschen sich eine individuell ausgestaltete Aufgabe, bei der sie ihre Kompe - tenzen einbringen können. Dies ist eine große Herausforderung für die Organisationen, die mit Freiwilligen arbeiten. Die Freiwilligendienste freuen sich über ein kontinuierliches Wachstum – aktuell absolvieren ca. 100.000 Menschen pro Jahr einen solchen Dienst. Besonders beliebt ist das Format im Übergang von Schule zu Beruf bzw. Ausbildung. Hier hat sich der Freiwilligendienst zur berufli - chen Orientierung und als Phase der Klärung bei jungen Menschen vielfach bewährt. Von staatlicher wie gesellschaftlicher Seite sind aber auch hier die Erwartungen an die Organisationen gestiegen: So soll der Freiwilligendienst zum einen Nachwuchskräfte im sozialen Be - reich rekrutieren, zum anderen soll die Zeit im Freiwilligendienst bei jun - gen Menschen zunehmend erziehe - rische Defizite ausgleichen.
Ehrenamt, freiwilliges Engagement und Frei willigendienste heute
Die Tradition des Ehrenamtes ist un - gebrochen. Allerdings lässt sich in vielen Bereichen ein Bedeutungsver- lust beobachten – so existieren Frei - willige Feuerwehren fast ausschließ - lich in ländlichen Regionen, während in urbanen Zentren Berufsfeuerweh - ren überwiegen. Eine Aufwandsent - schädigung für die ehrenamtliche Arbeit ist heutzutage die Regel. Viele Organisationen kämpfen mit akuten Nachwuchsproblemen im Ehrenamt. Dies gilt vor allem auch für ehren - amtliche Vorstände von Vereinen. Das Freiwillige Engagement erlebt seit 2001 einen sichtbaren Bedeu - tungszuwachs: In der Folge der En - quetekommission zur „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ wurde Freiwilliges Engagement stärker politisch wahrgenommen, in
Wolfgang Hinz-Rommel ist Leiter der Abteilung Freiwilliges Engagement beim Diakonischen Werk Württemberg e.V.
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Kurze Geschichte des Ehrenamtes in der Türkei
Ehrenamtliches Engagement oder Freiwilligenarbeit, in der Türkei be - kannt unter dem Begriff gönüllülük, existiert bereits seit den Tagen des Osmanischen Reichs in Form von Stiftungen. Damals durfte jede Eth - nie Stiftungen gründen und es gab ca. 100 entsprechende Einrichtun - gen landesweit, darunter Armen- und Krankenhäuser. Mit Gründung der Republik 1923 erfolgte eine Neu - strukturierung des Stiftungswesens. Viele Dinge waren nun verboten. Re - ligiöse Sekten durften keine Schulen mehr gründen, Stiftungen durften keinen Handel betreiben und sich keine Besitztümer mehr aneignen. Erst 2010 wurde ein neues Gesetz für Stiftungen erlassen. Ländereien wurden in diesem Kontext zurückge - geben. Ein schweres Erdbeben, das die Türkei 1999 ereilte, förderte ein er - starkendes Bewusstsein für den Wert und die Bedeutung freiwilli- gen Engagements. Dieses wurde
durch das UN-Ehrenamtsjahr 2001 noch einmal unterstützt. Es gab neue gesetzliche Regelungen zum Ehrenamt, Freiwillige Feuerwehren wurden gegründet und eine Steu - erfreiheit für Vereine geschaffen. Die Umgestaltung des türkischen Jugendministeriums 2013 schuf wei - tere Impulse für die Ausweitung des freiwilligen Engagements, was dann 2019 im Jahr des Ehrenamtes gipfel - te. In der Folge wurden Plattformen für das Ehrenamt gegründet, die das Auffinden von Einsatzmöglichkeiten erlaubten. Im Rahmen der Zusammenarbeit zwischen Hochschulrat und Minis - terium für Jugend und Sport wird seit dem Studienjahr 2020–2021 das Fach „Ehrenamtlicher Studienunter - richt“ als Studienfach angeboten. Darüber hinaus gibt es an vielen Universitäten Jugendoffices, die die erste Anlaufstelle für Studierende darstellen, die sich ehrenamtlich en - gagieren wollen.
Der unabhängige türkische Städte - rat unterzeichnete 2021 ein Proto - koll mit dem Ministerium, das be - sagt, dass das Ehrenamt über die Kommunen gewährleistet werden soll. Zu diesem Zweck hatte es ein Zusammentreffen von 400 Bürger - meistern gegeben. Auch wenn es ge- setzlich geregelte Freiwilligendiens - te, ein Taschengeld für Freiwillige oder eine Aufwandsentschädigung für Ehrenamtler – also ein Deutsch - land vergleichbares Anreizsystem – in der Türkei nicht gibt, wird freiwil - liges Engagement vor allem junger Menschen offensiv beworben und in seiner Bedeutung für eine funktio - nierende Gesellschaft wertgeschätzt und kontinuierlich weiterentwickelt.
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Der Begriff und die Entwicklung des Ehrenamtes in der Türkei
Erkan Şamiloğlu
Auch wenn der Begriff des Ehren - amtes in verschiedenen Regionen der Welt unterschiedlich definiert wird, ist er ein universeller Wert, dem überall mit gleicher Wertschät - zung begegnet wird. Das Ehrenamt ist die persönliche Initiative eines Menschen, der seine Fähigkeiten und Erfahrungen einbringen möch - te, um Lösungen zu unterstützen. Jede Leistung und Tat, jede Arbeit oder jeder Beitrag, der ohne Erwar - tung einer Gegenleistung erbracht wird, kann somit als ehrenamtliches Engagement bezeichnet werden. Mit anderen Worten: Es ist jedes Han - deln, bei dem Verantwortung über - nommen und diese Verantwortung
auch umgesetzt wird. Gleichzeitig bedeutet Ehrenamt auch die Teilha - be und Unterstützung einer zivilge - sellschaftlichen Organisation oder einer rechtlichen und öffentlichen Dachorganisation bei ihren gemein - nützigen Tätigkeiten. Die jahrhundertelange Tradition der Nächstenliebe und Nachbarschafts - hilfe ist in der Türkei immer schon religiös geprägt und kann, beson - ders in den Jahrhunderten des Os - manischen Reiches, auf eine starke Kultur der Wohlfahrtshilfe und Stif - tungen zurückblicken. Diese Tradi - tion wurde innerhalb des Reiches, aber auch über die Grenzen hinweg, besonders in Bereichen wie Sozi - alwesen, Handel, Gesundheit und kulturelle Architektur gelebt. In der Osmanischen Zeit wurden zahlrei -
che wichtige Vorkehrungen getrof- fen, um Menschen in sozialer und beruflicher Hinsicht zu helfen und zu schützen. Diese Unterstützung wurde größtenteils von zunftartigen Vereinigungen (Ahî) und religiöse Stiftungen (Waqf) übernommen und war ein wichtiger Beitrag zu sozialer Hilfe und Zusammenhalt. Aufgrund sich verändernder sozia- ler Strukturen und der technischen Entwicklungen hat sich in der heu - tigen Zeit die Form des Ehrenamtes gewandelt und auch inhaltlich neu gestaltet. Mit der Zeit haben sich verschiedene Arten wie z. B. Frei - willigendienste, Freiwilligenarbeit in Projekten, kurzzeitige Freiwilligen - arbeit, Ehrenamt in NGOs, digitales Ehrenamt, Freiwillige Arbeit unter Schüler*innen und Studierenden,
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Jugendfreiwilligenarbeit und Ehren - amt in der Altenpflege entwickelt. In diesen Aufgabenbereichen überneh - men Freiwillige verschiedene Aufga - ben und Rollen. In der Türkei gibt es noch keinen gesonderten rechtlichen Rahmen. Ehrenamtliches Engagement erfolgt hauptsächlich auf traditionelle Wei - se über Nachbarschaftshilfe, Zusam - menhalt und Unterstützung inner - halb der Großfamilie, über soziale Verantwortung für die Gemeinde, Mitgefühl und Verantwortungsge - fühl für Bedürftige, Spenden und Ab - gaben an religiösen Feiertagen für Menschen in Not oder über Stipen - dien und Studierendenunterkünften von Stiftungen oder gemeinnützigen zivilgesellschaftlichen Organisati - onen. In der Türkei beruht das Eh - renamt also eher auf individuellem Engagement als auf professionell organisierter Arbeit. Durch dieses persönliche Engage - ment verfügen die Menschen in der Türkei zwar über große Erfahrungen zum Thema Ehrenarbeit. Ehrenamt wird in der Türkei jedoch aus einem sehr engen Blickwinkel betrachtet. Mit Ehrenamt oder freiwilligem En - gagement assoziieren die meisten Menschen eine „Freizeitbeschäfti - gung“. Jugendliche betrachten dies als eine kleine Beschäftigung, die sie während der Schulzeit oder Ausbil - dung nebenbei machen. Um diese Einstellung zu ändern, um ein Ver - ständnis für die wahre Bedeutung des Ehrenamtes zu etablieren, muss versucht werden, den Jugendlichen den Gedanken der sozialen Verant - wortung und der gesellschaftlichen Teilhabe verständlich zu machen. In diesem Sinne hat das Ministerium für Jugend und Sport eine führende Rolle übernommen und verschiede - ne Veranstaltungen umgesetzt, um
Jugendlichen ein Bewusst - sein für das Ehrenamt zu vermitteln. Um Jugend - lichen besseren Zugang zum Ehrenamt zu ermögli - chen, hat das Ministerium das Jahr 2019 zum „Jahr des Ehrenamtes“ erklärt. In diesem Rahmen wurden verschiedene Eröffnungs - programme umgesetzt und ein „Strategiepapier 2019 Jahr des Ehrenam -
Abschließend kann gesagt werden, dass es nicht vorrangig wichtig ist, in unterschiedlichen Ländern eine ein - heitliche Definition des Ehrenamtes festzulegen, sondern eine gemein - same Sicht- und Vorgehensweise zu bestimmen. Es ist nicht wichtig, wie Ehrenamt früher betrachtet oder ausgeübt wurde, sondern wie das Ehrenamt heute einen Beitrag für die gesellschaftliche Arbeit leisten kann. Mit der sich ständig ändern - den und globalisierten Welt rücken neue Methoden wie beispielswei - se digitale Möglichkeiten der Frei - willigenarbeit in den Vordergrund. Gleichzeitig müssen Pflichten und Rechte der Ehrenamtlichen, deren Schutz und Sicherheit neu definiert und in dieser neuen Welt umgesetzt werden.
tes“ veröffentlicht. Das Strategiepa - pier dient zur Stärkung des Bewusst - seins zum Thema Ehrenamt in der Gesellschaft und besonders unter Jugendlichen, deren Interesse und Teilnahme damit vermehrt geweckt werden soll. Unter diesen Gesichtspunkten ist es von besonderer Bedeutung, die Motivation der Freiwilligen zu för - dern, um eine stärkere Beteiligung und Nachhaltigkeit gewährleisten zu können, da jeder Mensch sich aus sehr unterschiedlichen Motiven ehrenamtlich engagiert. Eine stan - dardisierte Gratifikation oder Zerti - fizierung wäre nicht umsetzbar oder effektiv, da sich nicht jeder für eine Anerkennung über Geschenke oder eine Plakette begeistern lässt. Es müssen individuell an die jeweiligen Personen gerichtete Auszeichnun - gen verwendet werden. Hierzu müs - sen die ehrenamtlich Tätigen genau gekannt, ihre persönlichen Beson - derheiten beachtet und individuell Danksagungen überreicht werden. Das können auch besondere Rechte oder andere angemessene Zeichen der Anerkennung sein. Dabei müs - sen auch die Persönlichkeit, die spe - zifischen Fähigkeiten und / oder die Ausbildung berücksichtigt werden. Einige Ehrenamtliche sind beispiels - weise erfolgsorientiert, andere wie - derum durch soziale Anerkennung und Lob zu motivieren.
Quellen: 1. https://bit.ly/3GHgyFq 2. https://bit.ly/3HRgwvV 3. 2019 Gönüllülük Yılı Stratejisi Belgesi
Erkan Şamiloğlu ist stellvertretender Generaldirektor des Generaldirektorats für Bildung, Forschung und Koordination im Ministerium für Jugend und Sport.
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KAPITEL 3
Bildung, Qualifizierung und Zertifizierung
In diesem Kapitel sollen beispielhaft Ausbildungs-, Qualifizierungs- und Zertifizierungsmodelle für frei willige und/oder ehrenamtliche Tätigkeit in Deutsch land und der Türkei vorgestellt werden. In beiden Ländern existiert ein Bewusstsein dafür, dass ehren amtliche Tätigkeit begleitet und angeleitet werden sollte. Es gibt Ausbildungs- und Qualifizierungsange bote für Menschen, die sich ehrenamtlich engagie ren möchten. Einige davon sollen hier beispielhaft vorgestellt werden. Darüber hinaus wächst die Be deutung der Erkenntnis, dass freiwilliges und ehren amtliches Engagement anerkannt und gewürdigt werden muss. Nicht zuletzt werden dadurch Anreize für entsprechendes Engagement geschaffen, aber Würdigung und Wertschätzung sind auch zentraler Ausdruck einer gesellschaftlichen Haltung zu freiwil ligem Engagement als einer wesentlichen Stütze für den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalt. Bei spiele für Zertifizierung und Anerkennung werden hier für beide Länder angeführt.
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